Fehlende Schutzkleidung, zu wenige Tests, keine passenden Medikamente: Tolkinaj Ordabajewa hat sich mit Corona infiziert - und erhebt schwere Vorwürfe. Die junge Frau ist Spezialistin für Infektionskrankheiten und arbeitet in einem Gebietskrankenhaus im Süden Kasachstans. Sie habe sich bei einem Patienten angesteckt, weil es an der passenden Ausrüstung fehle, schrieb die Ärztin vor einigen Tagen auf Facebook. „Die Krankenhausverwaltung hat das medizinische Personal gezwungen, sich eigene Masken zu nähen, auf der Arbeit stellen sie weder Masken noch Schutzkleidung bereit."
Kasachstan hat mehr als 1.500 bestätigte Coronafälle. Gut ein Viertel der Betroffenen gehört zum medizinischen Personal. Bisher sind 19 Menschen an den Folgen der Viruserkrankung gestorben. Ordabajewas Vorwürfe schlugen hohe Wellen, selbst staatliche Medien veröffentlichten ihre Kritik. Die Behörden widersprachen ihr zwar, kündigten aber dennoch an, die Vorwürfe prüfen zu wollen. Ihr Fall ist exemplarisch für den Umgang Kasachstans mit der Coronakrise: Einerseits übt sich die Regierung in Transparenz und harten Maßnahmen zur Eindämmung des Virus. Andererseits bleiben Zweifel an den veröffentlichten Zahlen und daran, wie gut das Land tatsächlich auf den Ausbruch des Virus vorbereitet ist.
Corona: Stimmen die Zahlen?Immerhin nimmt die Regierung die Bedrohung ernst. Schon Ende Januar schloss Kasachstan die Grenzübergänge nach China. Dennoch gab es aus dem Osten des Landes immer wieder Gerüchte von vollen Krankenhäusern und einer mysteriösen Lungenerkrankung. Nach offizieller Darstellung kam das Virus dann auch gar nicht aus China, sondern wurde von Kasachstanern eingeschleppt, die von einer Reise aus Deutschland zurückkehrten.
Der Ausbruch des Coronavirus wurde in Kasachstan am 13. März bestätigt. Es waren die ersten Fälle in Zentralasien. Seitdem gibt es täglich Updates zur Lage im Land. Die Regierung hat eine Webseite und einen Telegram-Kanal eingerichtet, die aktuell über neue Infektionen informieren. Außerdem werden regelmäßig Statistiken zur Anzahl von Intensivbetten, Beatmungsgeräten und durchgeführten Tests veröffentlicht. So wurden zwischen dem 13. März und dem 20. April knapp 120.000 Personen auf Covid-19 getestet. In Kasachstan, das 18 Millionen Einwohner hat, ist das nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung. Hinzu kommt die Frage, wie verlässlich die Tests sind.
Drei Tage nach Bekanntwerden des Ausbruchs wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, weitere drei Tage später die größten Städte des Landes, Almaty und Nur-Sultan, unter Quarantäne gestellt. Sie sind bis heute die Hotspots der Infektionen. Mittlerweile wurde die Quarantäne aufs ganze Land ausgeweitet. Und das heißt vor allem: Ausgangssperren. Einwohner dürfen nur für den Kauf von Lebensmitteln und Medikamenten nach draußen; Spaziergänge oder Sport sind keine berechtigten Gründe.
Um die Maßnahmen durchzusetzen, patrouillieren Polizisten und Militärangehörige in den Städten. Auf Anordnung des Präsidenten wurden sogar wehrpflichtige Kasachstaner eingezogen. Sie befragen Fußgänger, wie es ihnen geht und wohin sie wollen. Für Autofahrer gibt es gesonderte Kontrollpunkte. Dabei wird auch auf Technik gesetzt: Ein Überwachungssystem aus China verfolgt Autofahrer, um zu sicherzustellen, dass sie die festgelegten Routen nicht verlassen. Auf interaktiven Karten kann man sehen, wo genau Verdachtsfälle und Infizierte unter Quarantäne stehen.
Pandemiemanagement: Lockerungen trotz steigender FallzahlenWirtschaftlich trifft die Pandemie Kasachstan gleich doppelt: Einerseits haben die meisten Läden geschlossen und Unternehmen die Arbeit eingestellt. Andererseits sorgte der wirtschaftliche Shutdown in China für eine geringere Nachfrage bei Öl und Gas, welche einen Großteil der Staatseinnahmen ausmachen. Durch den folgenden Preisverfall ist die Währung eingebrochen. Im März ist der Wert des Kasachstanische Tenge um 16 Prozent gefallen.
Präsident Qassym-Schomart Toqajew kündigte staatliche Soforthilfen an. Von der Quarantäne betroffene Arbeitnehmer und Selbstständige konnten einmalig 42.500 Tenge (ca. 92 Euro) beantragen. Für kleinere und mittlere Unternehmen werden Steuern und Sozialabgaben ausgesetzt oder gestundet. Zudem haben bis zum 1. Juli alle Bürger das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung. Im Gegensatz dazu hatte Toqajews Vorgänger, Nursultan Nasarbajew, die Kasachstaner zuvor zu Spenden für in notgeratene Unternehmen aufgerufen.
Toqajew, der seit langem in den sozialen Medien aktiv ist, wendet sich regelmäßig an die Bürger. Am vergangenen Sonntag twitterte er: „Die Zahl der mit COVID-19 Infizierten steigt in Kasachstan, jedoch nicht in geometrischer Progression. Das bedeutet, dass die getroffenen Entscheidungen rechtzeitig kamen. Doch der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Ich bitte die Bürger, in Quarantäne zu bleiben. [...]"
War zunächst der Höhepunkt der Epidemie in Kasachstan für die erste Aprilhälfte erwartet worden, ist nun von Ende April oder Anfang Mai die Rede. Man rechnet mit bis zu 3.500 Infizierten. Trotzdem gibt es bereits erste Lockerungen: Am 20. April durften Unternehmen wie Baufirmen, Baumärkte, Autohäuser und Reinigungen in Almaty und Nur-Sultan die Arbeit wieder aufnehmen. Wann es zu einer endgültigen Aufhebung des Ausnahmezustands kommt, ist bisher unklar. Vorerst wurden die Maßnahmen bis zum 1. Mai verlängert.
Somit fällt im mehrheitlich muslimischen Kasachstan auch der Beginn des Fastenmonats Ramadan in die Zeit der Quarantäne. Die Moscheen sind geschlossen. Der Obermufti des Landes forderte die Gläubigen dazu auf, das Fastenbrechen nur zu Hause im kleinsten Familienkreis zu begehen. Bereits am Wochenende fanden die Gottesdienste anlässlich des orthodoxen Osterfests nicht wie üblich in den Kirchen statt, sondern wurden im Fernsehen und online übertragen.
Autoritarismus: Einschüchterung von RegierungskritikernFür den kasachischen Präsidenten und seine Regierung ist die Corona-Krise eine Chance, sich zu profilieren. Die strengen Maßnahmen und regelmäßigen Informationen stärken das Vertrauen der Bevölkerung in die Machthaber, solange die Fallzahlen moderat bleiben.
Allerdings nutzt das Regime die Situation auch, um Oppositionelle einzuschüchtern. Etliche Kritiker und Bürgerjournalisten wurden unter dem Vorwurf, falsche Informationen verbreitet und die Regeln des Ausnahmezustands verletzt zu haben, in den vergangenen Tage festgenommen. Einige Aktivisten hatten beispielsweise von Kontrollpunkten live gestreamt und gezeigt, wie einfach es ist, trotz bestehender Beschränkungen hindurchzukommen. Gleichzeitig sind die andauernden Proteste der vergangenen Monate praktisch zum Erliegen gekommen.
Menschenrechtler kritisieren das Vorgehen der Regierung. Ihr gehe es vor allem darum, soziale Netzwerke zu kontrollieren, erklärte Jewgenij Schowtis, Direktor des Kasachstanischen Internationalen Büros für den Schutz der Menschenrechte, gegenüber dem US-finanzierten Radio Azattyq. „Diejenigen, die jetzt [von den Verhaftungen] betroffen sind, sind in den sozialen Netzwerken sehr aktiv. Sie beeinflussen die öffentliche Meinung, protestieren gerne und stellen Ansprüche an den Staat", so Schowtis. Hinter dem harschen Vorgehen stehe vor allem die Angst, die Deutungshoheit in den Medien zu verlieren. Den Machthabern bleibe daher nur Einschüchterung. „Wir sind ein autoritärer Staat, und ein autoritäres Regime versucht immer, die Kontrolle zu behalten und alle Bedrohungen zu minimieren."
Dass Kritik dennoch Erfolg haben kann, zeigt der Fall von Tolkinaj Ordabajewa. Nach ihrer viel beachteten Beschwerde leiteten die zuständigen Behörden eine Untersuchung in ihrem Krankenhaus ein. Dabei fanden Beamte überraschend 400 frische Masken im Dienstzimmer der Ärztin. Diese protestierte. Die Masken hätten sich vor der Kontrolle nicht im Raum befunden. Ihre Kollegen schlossen sich daraufhin dem Protest an und unterstützten Ordabejewas Version mit einer Unterschriftenaktion. Daraufhin gaben die Behörden nach und entließen die Krankenhausleitung.