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Abschied von Putins Russland

Riga statt Moskau oder Sankt Petersburg, diesen Entschluss haben zuletzt mehr und mehr Russen gefasst. Nur 90 Flugminuten trennen die russischen Metropolen von der lettischen Hauptstadt. Im vergleichsweise beschaulichen Riga ist der Lebensstandard hoch, die Hürden bei Arbeitsgenehmigung und Aufenthaltsstatus niedrig. Russisch ist verbreitet nach langer Sowjetherrschaft. So übt die kleine baltische Republik große Anziehungskraft auf jene Russen aus, die eine neue Heimat suchen.

Lettlands Statistiker zählen seit 2011 pro Jahr eine vierstellige Zahl von Russen, die übersiedeln. Davor waren es nur wenige Hundert. Unter den Neuzugängen ist die Soziologin und Geschäftsfrau Irina Krylowa. „Ich bin in Moskau geboren und habe nie an Emigration gedacht - nicht einmal an einen Umzug in eine andere russische Stadt", erklärt sie. Doch über die Jahre sei die Unzufriedenheit in Moskau gewachsen. „Wir sind sehr kritisch, etwa wenn es um die medizinische Versorgung geht", sagt Krylowa. Ein Bereich von vielen, in dem sich Russen höhere Standards wünschen. Im Sommer 2012 zog die heute 37-Jährige mit Mann Maxim und zwei Kindern, damals zehn und fünf Jahre alt, nach Riga. Rasch fanden sie Freunde, die den gleichen Weg wählten: Kreative, Architekten, Geschäftsleute, Lehrer, Programmierer. Sie alle verbinde der „Glaube an Fortschritt, europäische Werte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung - was in Russland nicht zu finden ist". Stattdessen kritisieren sie Wladimir Putins repressive Politik, die permanente Propaganda, Korruption, fehlende Rechtssicherheit, geringen Lebensstandard oder niedrige Löhne. Die Gründe sind zahlreich wie die Türme im Kreml. Viele aus ihrem Freundeskreis „wollten nur für einen Sommer kommen, jetzt wollen sie bleiben", sagt Krylowa. „Sie sind gegangen, weil sie keine Perspektive in Russland hatten."

Vor allem Akademiker gehen

Forscher der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst schätzen, dass jedes Jahr 100000 Menschen Russland verlassen - darunter viele Akademiker. Andere Erhebungen berichten von bis zu drei Millionen Menschen, die seit Putins Amtsantritt auswanderten. In Umfragen geben regelmäßig zwischen zehn bis knapp zwanzig Prozent an, mit dem Gedanken an Emigration zu spielen. Die jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM ergab, dass unter den 18 bis 24-Jährigen, der Generation Putin, jeder Dritte an Auswandern denkt. Deutschland ist dabei bevorzugtes Ziel, gefolgt von EU-Nachbarländern und den USA. 2014, dem Jahr von Krim-Annexion und Wirtschaftskrise, waren es noch zehn Prozent weniger.

Wie viele ihrer Heimat den Rücken kehren, lässt sich kaum beziffern. Niemand muss sich abmelden, weswegen verlässliche Zahlen von russischer Seite fehlen. Allerdings gibt es Zahlen, aus den Ländern, in denen die Menschen ankommen. In Deutschland und anderen Staaten wächst Zahl russischer Studenten, Hochqualifizierter und weiterer Zuwanderer. Gemessen an fast 144 Millionen Einwohnern, erscheint die Zahl der Auswanderer zunächst nicht dramatisch. Jedoch gingen „brillante Köpfe", wie Natalja Subarewitsch, Expertin für Sozialgeographie und Russlands Regionen erklärt. „Die Leute gehen nicht einfach so." Voraussetzung sei eine ausgezeichnete Ausbildung um am Arbeitsmarkt im Ausland zu bestehen. Der Exodus der Klugen wird zum Problem: „Russland verliert sein Humankapital", sagt Subarewitsch. „Auf lange Sicht schadet der Braindrain Russland", so die Expertin. „Viele wollen nicht, dass ihre Kinder in einer Atmosphäre der Bedrohung aufwachsen, die die Propaganda seit Jahren kreiert." Es gehe ihnen um Sicherheit und die Chance, die Zukunft planen zu können - „das ist in anderen Ländern leichter als in Russland".

Nicht jeder geht aus freien Stücken

So sieht es auch Oleg Smirnow, ein junger Programmierer um die 30, der seinen echten Namen nicht preisgeben möchte. Er will raus aus Russland, wenigstens für eine Zeit, um sich weiterzuentwickeln - in der Hoffnung, dass andere die Schalthebel der Macht übernehmen und seine Heimat in eine neue Richtung lenken. Die Atmosphäre in der Gesellschaft sei „vergiftet", sagt Smirnow. Er arbeitet bei Yandex, dem russischen Google. Als Schüler besuchte er eine der besten Schulen für Mathematik in Moskau. „Die meisten meiner Mitschüler haben das Land verlassen." Viele seien in die USA gegangen oder in die EU, arbeiten als IT-Spezialisten, Dozenten, Analysten. Programmierer hätten die besten Voraussetzungen, im Ausland einen Job zu finden. Das Wissen der erfahrenen Kollegen fehle jedoch in der Heimat.

Nicht jeder verlässt Russland aus freien Stücken. Alexej Koslow ging kurz vor dem Jahreswechsel 2012, bevor die Feiertage das Land tagelang stilllegen. „Wenn du vor den Feiertagen verhaftet wirst, kannst du zwei Wochen lang nichts machen", sagt der 43-jährige Koslow, „weil kein Richter arbeitet." Er floh nach Berlin.

Monate zuvor hatte der Aktivist in Woronesch, einer Provinzhauptstadt in Zentralrussland, Massenproteste mitorganisiert, bei denen in Moskau und andernorts viele Russen gegen Machtmissbrauch auf die Straße gingen. Bald darauf ermittelten die Behörden gegen Koslow, er befürchtete eine Anklage und floh. Nach Deutschland kam er mit Hilfe einer Stiftung. Seine Arbeit für die russische Opposition setzt er fort. „Ich will eine bessere Zukunft für meine Kinder", sagt er. Aus Berlin will er die in den Westen geflohene Elite vernetzen und sie in Bereitschaft halten, um eines Tages zurückzukehren. Würden Aktivisten sich entscheiden, dauerhaft im Ausland zu bleiben, sei dies „ein Gewinn für Putin", fürchtet Koslow. Die offizielle Haltung gegenüber kritischen und unbequemen Landleuten laute: „Hauptsache sie sind weg und nicht mehr gefährlich für den Kreml."

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