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Die neue russische Emigration

Das System Putin treibt die Jugend, die Künstler und die Unternehmer aus dem Land. Und es werden immer mehr, die Korruption und Repression nicht mehr ertragen.


Als die Drohungen härter wurden, packte Daniella Andriuka ihre Habseligkeiten und floh ans andere Ende der Welt. Das ist, von ihrer alten Heimat aus betrachtet, Brighton Beach, Brooklyn, New York; dort haben viele Russen ein neues Zuhause gefunden. Nicht wenige kamen schon vor vielen Jahren - auf der Suche nach einem besseren Leben. Andriuka kam erst vor kurzem, weil sie um ihre Sicherheit fürchtete.

Die 29-Jährige wuchs auf in Mineralnyje Wody, einer Stadt ganz im Süden Russlands, wo das Riesenland in den Bergen des Kaukasus ausfranst. Andriuka absolvierte dort eine Ausbildung bei der Zollbehörde. Ein Foto auf ihrem Smartphone zeigt die zierliche Frau mit langem braunem Haar und weichen, kindlichen Gesichtszügen in strenger Uniform. Für viele ist der Staat ein beliebter Arbeitgeber: Neben sicherem Gehalt ermöglicht er, auch etwas in die eigene Tasche zu wirtschaften.

Vier Jahre diente die junge Russin ihrem Staat, aber die Korruption, auf die sie im Arbeitsalltag stieß, störte Andriuka. Gegen illegale Machenschaften wollte sie etwas unternehmen. „Ich versuchte meine Arbeit anständig zu machen", berichtet Andriuka, „meine Pflicht", sie konnte zudem einer Beförderung entgegensehen. Sie unterrichtete einen Vorgesetzten, der aber reagierte nur mit der Drohung, sie zu feuern. Die Zöllnerin stand ihren Kollegen plötzlich im Weg. Sie störte sie beim, Geld verdienen, „eine Menge schmutziges Geld".

Andriuka gab nicht auf, wandte sich an ein Gericht. Die Beweise, die sie dort einreichte, gingen aber „verloren". Gegen die lukrativen Seilschaften kam sie nicht an. Ein Unbekannter, erzählt sie, sagte ihr am Telefon, sie solle schweigen, sonst werde man ihr Säure ins Gesicht spritzen.

„Korruption ist überall"

Drei Jahre ist das her. Als Andriuka in New York ankam, kannte sie dort niemanden. „Es war eine harte Zeit", sagt die Emigrantin. Doch sie fand ein Zimmer und einen Job als Kellnerin. Seither hofft sie auf politisches Asyl: „Leute warten auf mich in Mineralnyje Wody."

Andriuka ist eine von Tausenden Russen, die in den vergangenen Jahren ihre Heimat verlassen haben - „Wladimir Putin" ist der Grund, den sie immer wieder nennen. Seine Politik schaffe ein Land, in dem viele nicht mehr leben wollen. Das größte Übel sei die Korruption: Allgegenwärtig sei sie im „System Putin", sie wuchere in alle Bereiche der Gesellschaft hinein und sei somit die Basis der russischen Eliten.

Bis zu 20%

der Russen können sich Umfragen zufolge vorstellen, das Land zu verlassen.

In unserem Land haben wir keine Zukunft. Russische Auswanderer

In den nächsten Wochen will Russland Fußballfans aus aller Welt als gastfreundlicher WM-Ausrichter begrüßen. Im Umgang mit den eigenen Bürgern ist der Staat nicht immer zimperlich. Und so geben oppositionelle Aktivisten und Politiker, Journalisten, Unternehmer und Wissenschaftler auf. Ihre Gründe, die Heimat aufzugeben, sind so zahlreich wie die Türme im Kreml: Putins repressive Politik, eine schwache Wirtschaft, die penetrante Propaganda, fehlende Rechtssicherheit, geringer Lebensstandard oder niedrige Löhne.

Wie viele Russland den Rücken kehren, lässt sich kaum beziffern. Niemand muss sich bei einer Behörde abmelden. Umfragen zufolge können sich bis zu zwanzig Prozent vorstellen, das Land zu verlassen. Knapp ein Drittel der jungen Erwachsenen träumt vom Wegzug. Forscher der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst schätzen, dass jedes Jahr 100 000 Menschen auswandern. Gemessen an einer Gesamtbevölkerungszahl von fast 144 Millionen erscheint diese Zahl zunächst nicht dramatisch. Die Mehrheit steht hinter dem Präsidenten. Putin gilt seit 18 Jahren als Garant für Stabilität und wachsenden Wohlstand. Mit Problemen im Alltag arrangiert man sich.

Aber eben nicht alle. Und das ist ein Problem für Russlands Zukunft: „Es gehen die aktivsten, klügsten, engagiertesten Bürger", erläutert Lew Gudkow, ein renommierter Soziologe und Direktor des Moskauer Umfragezentrums Lewada. „Die Zahl ist nicht so wichtig, die Qualität der Leute ist entscheidend." Und das Tempo, mit dem sie das Weite suchen, hat deutlich angezogen. „Solange das System repressiv ist, wird sich die Abwanderung fortsetzen", prognostiziert Gudkow. In seinen Umfragen ist die häufigste Antwort der Auswanderer: „In unserem Land haben wir keine Zukunft." Emigranten zieht es in die USA, nach Lettland und in die Bundesrepublik.

Alexej Koslow verließ Russland im Dezember 2012. Vorm Jahreswechsel zu emigrieren, ist vernünftig, denn danach steht das Land tagelang still. „Wenn du vor den Feiertagen verhaftet wirst, kannst du zwei Wochen lang nichts machen", sagt Koslow, „weil kein Richter in dieser Zeit arbeitet." Er hatte in der Provinzhauptstadt Woronesch in Zentralrussland Massenproteste gegen Machtmissbrauch mitorganisiert; nicht wenige Russen folgten damals auch in Moskau und andernorts den Aufrufen. „Wir wollten den Staat kritisieren", sagt der 43-Jährige - aber große Hoffnung auf Veränderungen habe er sicher nicht gehegt.

Es gehen die aktivsten, klügsten, engagiertesten Bürger. Lew Gudkow, ein renommierter Soziologe und Direktor des Moskauer Umfragezentrums Lewada „Wir sind sehr kritisch" Ich liebe mein Land, aber nicht die Regierung. Ich möchte in einer Demokratie leben. Daniella Andriuka

Nach den Protesten griffen die Behörden auch hart durch, es gab Festnahmen, Aktivisten verließen Russland. Moskau hält die Türen offen für jeden Oppositionellen. „Hauptsache", so Koslow, „sie sind weg und nicht mehr gefährlich für den Kreml." Dass Kritiker aber selbst im Exil gefährdet sein können, zeigt der Fall Arkadij Babtschenko: Der Journalist, der Anfang 2017 aus Moskau floh, täuschte in Kiew seinen Tod vor - angeblich, um ein tatsächliches Attentat zu verhindern.

Koslow, der mit einer Anklage rechnete, kam zunächst nach Deutschland durch das Stipendium einer Stiftung und blieb, weil seine Frau ein Studentenvisum erhielt. Seine Arbeit für Menschenrechte und die Opposition setzt er seitdem von dort aus fort. Die russische Elite im Ausland müsse bereit sein, eines Tages zurückzukehren, in ein anderes Russland, sagt er.

Bei weitem nicht alle fliehen wegen möglicher oder tatsächlicher Repressionen. Oft sind viel simplere Gründe ausschlaggebend. Irina Krylowa, Soziologin und Geschäftsfrau, ging es vornehmlich um die Lebensqualität, als sie im Sommer 2012 mit ihrem Mann Maxim und den beiden Kindern, damals zehn und fünf Jahre alt, nach Riga zog. „Ich bin in Moskau geboren und habe nie an Emigration gedacht, nicht mal an einen Umzug in eine andere russische Stadt", erinnert sie sich.

Irgendwann konnte sie aber ihre Unzufriedenheit nicht länger ignorieren. „Wir sind sehr kritisch, etwa wenn es um die medizinische Versorgung geht", sagt die 37-Jährige. Viele Russen wünschen sich da bessere Angebote und mehr Entwicklung. Wie so viele in jüngster Zeit Ausgewanderte kritisiert sie aber auch Putins Politik: „Uns gefällt nicht, was in Russland geschieht." Krylowa glaubt „an Fortschritt, europäische Werte, Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung - was in Russland nicht zu finden ist."

Lettland ist attraktiv für Zuwanderer von Osten - da sind die Nähe zu Russland, der hohe Anteil Russisch sprechender Menschen in der Ex-Sowjetrepublik sowie die vergleichsweise günstigen Lebenshaltungskosten eines EU-Mitgliedstaates. Zogen vor 2010 einige Hundert Russen pro Jahr dorthin, ist die Zuwanderung inzwischen vierstellig. Viele aus Krylowas Freundeskreis „wollten nur für einen Sommer kommen - jetzt bleiben sie hier". Sie selbst möchte die lettische Staatsbürgerschaft beantragen.

Ganz anders ist es bei Andriuka in New York. Sie träumt von einer Rückkehr nach Russland - „wenn das autoritäre Regime endet". Sie glaubt: „Die Menschen sind ermüdet von dieser Regierung, sie beginnen zu verstehen, was vor sich geht. Rasche Veränderungen sind jedoch so unwahrscheinlich wie der Weltmeistertitel für die russische Nationalmannschaft." Andriuka versucht sich ihren Idealismus zu bewahren: „Ich liebe mein Land, aber nicht die Regierung", verkündet sie: „Ich möchte in einer Demokratie leben."

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