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Der Krieg hat die Menschen aus dem postsowjetischen Schlaf geweckt

Drei Jahre nach der Revolution in der Ukraine engagieren sich so viele Bürger wie nie zuvor. Die Gesellschaft verändert sich vor allem von unten.


Mit Superman hat Denis Bigunow wenig gemein, ausser dem rot-gelben S auf der Brust. Bigunow, ein junger Ukrainer von schmächtiger Gestalt, das dünne Haar in die Stirn gekämmt, verfügt über keine Superkräfte. Deshalb steht unter dem geschwungenen Emblem auf seinem Kapuzenpulli in kyrillischen Buchstaben noch ein Motto: "Starke Kommunen". Es ist der Name einer Bürgerinitiative, mit der der 29-Jährige etwas bewegen will. Gemeinsam stark sein, dort, wo der Staat schwach ist.


Gegen feudale Behörden

So wie in Bigunows Heimat Slowjansk, einer Industriestadt mit rund 100 000 Einwohnern, ganz tief im Osten der Ukraine. Von hier ist es, vorbei an qualmenden Fabrikschloten und Abraumhalden, nicht mehr weit bis in die selbsternannte Volksrepublik Donezk, die prorussische Separatisten von der Ukraine abspalten wollen. Als der Konflikt vor bald drei Jahren ausbrach, zählte Slowjansk zu den ersten Schauplätzen. Noch immer sind die Folgen der Gefechte am Stadtrand zu besichtigen: zerfetzte Hauswände, gesprengte Dächer. Gräber vor Backsteinruinen. In die Einschusslöcher am grossen Ortsschild stecken Einwohner rote Nelken, seit ukrainische Regierungstruppen im Juli 2014 die Stadt wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. Längst hat sich der Krieg aus Slowjansk verzogen, aber viele Probleme sind geblieben.


Aktivist Bigunow will sich an Lösungen beteiligen. Vor dem Krieg arbeitete er für die Stadtverwaltung, hatte aber das Gefühl, dass sich in seiner Heimat nicht wirklich viel bewege. Heute weiss er, dass er einen Teil dazu beitragen kann - und muss. In der Verwaltung gebe es zwar noch immer viele Widerstände, "aber es wird besser". Bigunow bezeichnet sich als Patriot. Das ist gemäss seiner Definition jemand, "der sich für das Gemeinwohl einsetzt".


Mit anderen Aktivisten der Organisation "Starke Kommunen" schaut er den lokalen Politikern auf die Finger und setzt sich für Entwicklungen in der Stadt ein. "Der Krieg hat uns gelehrt, auf unsere eigenen Kräfte zu vertrauen", erklärt Bigunow. Mit anderen Freiwilligen trifft er sich regelmässig in einem Bürgerzentrum namens Teplizja, zu Deutsch: Gewächshaus. Das zarte Pflänzchen Zivilgesellschaft soll spriessen, das ist das Anliegen der Mitglieder. Gerade planen sie hier unter flackernden Neonröhren einen neuen Park im Stadtzentrum, der mehr Grün zwischen die grauen Plattenbauten bringen soll. Auch die kleine Stadtbibliothek wollen sie erneuern, ebenso das Heimatmuseum.


Es sind nur kleine Schritte, aber wichtige auf dem Weg zu einem funktionierenden Staat. Von der Regierung komme zu wenig Unterstützung, meint Bigunow. Besonders im Osten fühlen sich viele Menschen von der Regierung in Kiew im Stich gelassen. Aber auch die lokalen Behörden stehen in der Kritik. Die Ukraine sei "neofeudal und postsowjetisch geprägt", sagt Bigunow und meint damit die noch immer bestehenden Seilschaften der Elite. Als die Revolution auf dem Maidan begann, verfolgte Bigunow die Geschehnisse im Fernsehen und dachte: "Endlich ändert sich etwas."


Bigunow wünscht sich eine moderne Ukraine. Um dies zu erreichen, braucht es seiner Meinung nach zum einen den Druck der internationalen Gemeinschaft, zum anderen den Druck aus dem ukrainischen Volk. "Der Krieg hat die Zivilgesellschaft gestärkt und gefestigt", sagt Bigunow. Seit der Revolution auf dem Maidan und dem Kriegsausbruch würden Diskussionen geführt, die es in der Sowjetzeit und danach in der unabhängigen Ukraine während 90 Jahren nicht gegeben habe. "Die Menschen sind aus dem postsowjetischen Schlaf erwacht", erklärt der junge Aktivist.


Gestrandete versorgen

Nicht nur im Gewächshaus von Slowjansk, auch an anderen Orten im Land ist die Zivilgesellschaft aktiv wie nie zuvor. Es erblühen plötzlich unterschiedliche Bürgerinitiativen, von Stadtentwicklung über Umweltschutz und erneuerbare Energien, Gesundheitsvorsorge oder Traditionspflege bis hin zur Kontrolle von Behörden. Geld bekommen die Initiativen aus dem Ausland, was später einmal zum Problem werden könnte. Zurzeit sichert es die Arbeit der Initiativen, aber was geschehen wird, wenn die Unterstützung ausbleibt, weiss niemand.

Zum ersten Mal bietet sich der Zivilgesellschaft die Chance, die Entwicklung des Landes voranzutreiben und die dominanten Eliten zu beeinflussen, was vor dem Maidan so nicht möglich war. Dort, wo der Staat versagt, springen nun die Bürger ein.


Zum Beispiel Nadia Chomenko. Die blonde 39-Jährige kümmert sich seit Kriegsausbruch um Binnenflüchtlinge, um Ukrainer, die von Separatisten besetzte Gebiete verlassen mussten. Knapp eineinhalb Millionen Vertriebene gibt es offiziell, Chomenko schätzt die Zahl auf etwa eine Million. 2500 leben momentan noch in Kramatorsk, einer Stadt südlich von Slowjansk mit rund 160 000 Einwohnern. Hier engagierte sich Chomenko, damals noch Unternehmerin im Hauptberuf, zunächst freiwillig für die Menschen. Später gründete sie die gemeinnützige Organisation "Land freier Menschen", um die Flüchtlinge zu unterstützen. "Der Staat hat ihnen nicht geholfen", kritisiert die Aktivistin, "die Verwaltung hat total versagt." Mit weiteren Unterstützern organisiert Chomenko die medizinische Versorgung für die in Kramatorsk gestrandeten Ukrainer, bietet psychologische Beratung und Rechtshilfe, ebenso wie Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche.


Viele der Geflohenen seien in der Zwischenzeit in ihre alte Heimat zurückgekehrt, weil sie keinen neuen Job hätten finden können und die finanzielle Unterstützung des Staates zu niedrig sei, um davon zu leben. Die Menschen in den besetzten Gebieten seien ohnmächtig, sagt sie: Einerseits stünden sie unter massivem Einfluss der russischen Propaganda. Andererseits seien sie verärgert über den fehlenden Schutz der eigenen Regierung.

Eine Lösung des Konflikts sieht sie in weiter Ferne, zu viel Blut sei vergossen worden. "Es dauert eine Generation und mehr, um das zu vergessen", fürchtet Chomenko. "Die Regierung müsste wenigstens einen Plan entwickeln, um die Territorien im Osten zurückzubekommen. Aber die Menschen hier sind auf sich alleine gestellt."


Alleine fühlen sich viele auch im Informationskrieg zwischen der Ukraine und Russland. Jewhen Onischuk will deshalb den unabhängigen Journalismus stärken. Im "Anti-Krisen-Medienzentrum" in Kramatorsk will er Propaganda entlarven und Vertrauen in die Medien aufbauen. Im Sommer 2014 hat Onischuk das Zentrum als Bürgerinitiative gegründet. "Der Krieg hat die Notwendigkeit für unabhängigen Journalismus zweifellos gestärkt", meint er.


Kampf für die Wahrheit

Sein Zentrum in Kramatorsk bietet einen gefliesten Raum mit gelb getünchten Wänden für Pressekonferenzen und Workshops. Die Mitarbeiter organisieren Foren, wo sich Journalisten und Vertreter aus Behörden und Militär kennenlernen und austauschen können. Seit kurzem liefert die Organisation sogar Nachrichten im Internet. "Wir wollen Informationen verifizieren", sagt Onischuk, "und Desinformationen von der Wahrheit unterscheiden."


Fehlinformationen und Propaganda sind ein Problem der ukrainischen Medien. Zweifelhafte Besitzverhältnisse sind ein anderes. Die meisten Fernsehsender befinden sich in den Händen von Oligarchen und gelten als Werkzeuge für deren Interessen. "Für die Bürger ist es schwer zu verstehen, wer welche Informationen liefert und wer glaubwürdig ist", erläutert der 27-Jährige mit dem jungenhaften Lächeln.


Kompliziert ist es auch mit der Schere im Kopf vieler Journalisten, besonders dann, wenn es um die sogenannte Anti-Terror-Operation der ukrainischen Armee geht. Journalisten, das verlangen viele Ukrainer, sollten patriotisch berichten, Objektivität spielt eine untergeordnete Rolle. Ausserdem dringen kaum verlässliche Berichte aus den Separatistengebieten ins Land. Ausgewogene Berichterstattung aber würde es brauchen, um die tatsächliche Situation vor und hinter der Frontlinie abzubilden.


Onischuk versucht mit seinem Team von knapp 20 überwiegend jungen Mitarbeitern objektive Informationen ans Volk zu bringen. Die russische Propaganda sei so erfolgreich, weil die Menschen ein nur schwach ausgeprägtes Informationsbewusstsein hätten, erklärt Onischuk und ist überzeugt: "Wenn die Bürger lernen, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, wird das dazu beitragen, den Konflikt zwischen den Menschen in der Ukraine zu entschärfen."

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