Nora Schmitt-Sausen

Journalistin Schwerpunkt USA, Berlin

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Artikel

USA - Abhängig von Schmerzmitteln

Dass die US-Amerikaner bei Beschwerden rasch zu Medikamenten greifen, ist bekannt. Nun hat dieser laxe Umgang dramatische Folgen: Immer mehr Amerikaner sind Medikamenten-abhängig. Auch gibt es einen Zusammenhang zwischen Schmerzmittelmissbrauch und dem ebenfalls dramatisch steigenden Heroin- Konsum. Von Nora Schmitt-Sausen

Die US-Amerikaner sind gut darin, Schlagzeilen zu machen. Allen voran die US-amerikanischen Medien. Doch wenn die dramatischen Schlagzeilen gar von offizieller Stelle kommen, lässt die Faktenlage offensichtlich wenig Fragen offen. „Tödlichste Drogenepidemie in der amerikanischen Geschichte". „Überdosis-Epidemie durch verschreibungspflichtige Schmerzmittel". Es sind Aussagen der amtierenden US-Regierung - und sie sind so klar in ihrer Botschaft, dass sie sich von den phantasievollen US-Medien kaum noch steigern lassen.

Was ist geschehen? Im Land wird inzwischen überall sichtbar, was sich in Statistiken und Studien bereits seit einiger Zeit andeutet: Die USA haben ein neues Abhängigkeitsproblem. Bei dieser Drogenkrise geht es nicht um Kokain oder Crack, oder gar um das vielerorts legalisierte Marihuana. Es geht um den Missbrauch von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln - und in der Folge um eine der tödlichsten Drogen überhaupt: Heroin. Denn einige der Medikamenten-Abhängigen steigen im Laufe der Zeit darauf um.

Seit 1999 hat sich die Menge der verschriebenen und verkauften rezeptpflichtigen Schmerzmittel nahezu vervierfacht, obwohl die Amerikaner nicht mehr unter Schmerzen leiden als früher. Die dramatische Folge: Heute sterben in den USA täglich 44 Menschen an einer Überdosis aufgrund von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln. Das sind unter dem Strich 16.000 Tote im Jahr. Die Zahl der Abhängigen wird auf fünf Millionen geschätzt.

Mehr Todesfälle durch Heroin

Nicht minder düster sieht es mit Blick auf das Heroin-Problem aus. Offizielle Statistiken, die im Spätsommer 2015 vorgelegt wurden, belegen, dass sich die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Heroin-Konsum in den USA zwischen 2002 und 2013 ebenfalls nahezu vervierfacht hat. Während die Medikamenten- Abhängigkeit eine langjährige Geschichte hat, ist die Zahl der Herointoten vor allem in jüngster Vergangenheit stark nach oben geschnellt. 2013 gab es landesweit 8.200 Heroin-Tote. Die Droge ist in den USA für nur wenig Geld zu haben und außerdem leicht erhältlich.


Die Dimension des Problems ist immens. Allein im Jahr 2013 trafen auf rund 1,9 Millionen Amerikaner die diagnostischen Kriterien für Missbrauch oder Abhängigkeit von verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln zu. 517.000 erfüllten diese Kriterien im Hinblick auf Heroin. Inzwischen sterben in den USA mehr Menschen an einer Überdosis als bei Autounfällen.

Alt, jung. Arm, reich. Weiß, schwarz. Nord, Süd. Der Opioid-Missbrauch findet inzwischen in allen Winkeln und allen Gesellschaftsgruppen des Landes statt. Die Harvard T. H. Chan School of Public Health widmete dem Problem bereits im Frühsommer 2015 eines ihrer Foren. Daniel Alford, Associate Professor of Medicine an der Boston University School of Medicine, beklagte dabei, dass der falsche Umgang von Bürgern und Ärzten die Problemspirale in Gang gesetzt hätte, mit der sich die USA nun konfrontiert sehen. Ein zentrales Problem sieht er darin, dass mit chronischem Schmerz in den USA genauso umgegangen werde wie mit akutem Schmerz. Es herrsche das Prinzip: Linderung durch Medikamente. Die aktuelle Krise ist für ihn eine logische Folge dieses weit verbreiteten Denkens: „Ich bin in vielerlei Hinsicht nicht überrascht, dass wir in diese Probleme hineingeraten sind. Und ich glaube, wir müssen mit Blick darauf, wie Menschen diese Verordnungen wahrnehmen, aber auch wie Verschreiber sie nutzen, eine ganze Menge ändern." Ein Problem: In Befragungen geben Patienten landesweit an, von ihren Ärzten nicht über die Risiken einer Abhängigkeit aufgeklärt worden zu sein.


Öffentliche Diskussion startet


Nun, da die Zahl der Überdosis-Toten in den Kommunen steigt, Notaufnahmen landesweit mit immer mehr Patienten konfrontiert sind, das Gesundheitssystem Babys versorgen muss, die abhängige Mütter zur Welt gebracht haben und sich die Heroin-Epidemie im Land ausbreitet, hat das Thema endgültig auch Washington erreicht. US-Präsident Barack Obama thematisiert das Problem inzwischen öffentlich. Mittlerweile stellt auch er den Zusammenhang zwischen dem Medikamentenmissbrauch und dem wachsenden Heroin-Konsum, der unter Gesundheitsexperten lange bekannt ist, nicht mehr in Frage. Obama bezeichnet den Dauerkonsum von verschreibungspflichtigen Medikamenten gar als „Einfallstor zum Heroin". Und legt Zahlen vor: Vier von fünf Heroin- Konsumenten hätten ihre Drogenkarriere mit dem Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten begonnen.


Die Antwort der USA auf das neue Drogenproblem ist mehrstufig: mehr Prävention, mehr Aufklärung, Entstigmatisierung des Suchtproblems, koordiniertere Versorgung und besserer Zugang zu Therapieplätzen. Und bei der Suche nach Lösungen geraten zunehmend die US-amerikanischen Ärzte in den Fokus. Wie das Weiße Haus erklärt, stellen US-Gesundheitsdienstleister jährlich 259 Millionen Rezepte für Opioid-Schmerzmittel (Stand 2012) aus. Die US-amerikanische Regierung fordert Amerikas Ärzte deshalb zu einem sensibleren Umgang mit den Verschreibungen auf - und will das medizinische Personal im Land besser ausbilden. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollen mehr als 540.000 Ärzte und andere Verantwortliche gesondert in der Verschreibung von Schmerzmitteln geschult werden.


Dass sich das Abhängigkeits-Problem nicht über Nacht lösen wird, ist in den USA inzwischen jedem klar. Michael Boticelli, Washingtons erster Mann in der Drogenpolitik, sagte im Harvard-Forum: „Wir wissen, dass es kein Allheilmittel zur Lösung dieses Problems gibt. Es ist ein hoch komplexes Problem, das eine allumfassende Strategie erfordert, und bei dem wirklich alle Ebenen zusammenkommen müssen, um damit umzugehen." Immerhin: Beim Monitoring haben die USA wichtige Schritte gemacht. Innerhalb weniger Jahre haben - bis auf einen US-Bundesstaat - alle Programme zur Arzneimittelüberwachung etabliert.


Auch bei der Food and Drug Administration (FDA) läuten längst die Alarmglocken. Ende November 2015 hat die Behörde im Eilverfahren eine Nasenspray-Version von Naloxonhydrochlorid genehmigt. Damit können die Auswirkungen einer Opioid-Überdosis für kurze Zeit gestoppt werden. Das Mittel ist bereits im Einsatz; bis zur Genehmigung des Sprays allerdings lediglich in Spritzenform oder als Autoinjektor. Dank des Sprays sollen Ersthelfer - Sanitäter, Feuerwehrmänner, Polizisten, aber auch Angehörige - nun einfacher, schneller und risikoärmer helfen können. Während Naloxon als Hilfsmittel allgemein gefeiert wird, wird die Rolle der FDA kritisch gesehen. So wird die Behörde etwa dafür mitverantwortlich gemacht, dass es überhaupt erst zum landesweiten und massiven Missbrauch von Opioid-Schmerzmitteln kommen konnte.


Hausgemachtes Problem

Die Gründe für die heutige Epidemie reichen bis in die 1990er-Jahre zurück. Während in den 1980er-Jahren schwere Schmerzmittel fast ausschließlich nach Operationen oder bei Krebs verabreicht worden sind, wurden Opioid-Schmerzmittel in den 1990ern freizügiger verschrieben. Ein zentraler Grund für diese offenere Verschreibungspraxis war, dass die US-Pharmaindustrie mit aufwändigen - und wirkungsvollen - Kampagnen Amerikas Ärzte davon überzeugen konnte, dass die Verabreichung von Opioid-Schmerzmitteln nicht nur bei schweren Krankheiten wie Krebs, sondern auch bei Rückenschmerzen und sonstigen Beschwerden weitaus risikoärmer sei als angenommen und sich gleichzeitig die Lebensqualität der Patienten stark verbessere. Viele Krankenhäuser, Fachgesellschaften und führende medizinische Organisationen schenkten den Ausführungen der Industrie Glauben und halfen so dabei, die Verabreichung von starken Schmerzmitteln salonfähig zu machen. Erst zehn Jahre später setzte sich nach und nach die Erkenntnis über die Gefahren dieser Praxis durch - zu spät, um die in Gang gesetzte Dynamik noch stoppen zu können. Im Gespräch mit dem amerikanischen Radiosender National Public Radio kritisierte die Psychiaterin Anna Lembke von der Stanford University kürzlich außerdem das US-amerikanische Gesundheitssystem, in dem das Verschreiben von Medikamenten besser honoriert werde als das Führen von Gesprächen. Beim Versuch, das Problem in den Griff zu bekommen, sieht Lembke ein weiteres, zentrales Problem. Amerikas Ärzte verschrieben zwar freizügig Medikamente, könnten aber mit den möglichen problematischen Folgen nicht umgehen. „Ärzte sind nicht darin geschult, Abhängige zu behandeln. (...) Sie wissen nichts über Sucht. (...) Sie sind gute Ärzte und gut im Umgang mit Diabetes, aber sie wissen nicht, wie abhängig einige Medikamente machen." Lembke, Assistant Professor in Stanford, hat tiefe Einblicke in die ärztliche Praxis. In Kürze erscheint ihr Buch „Drug Dealer, MD".


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2016

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