Was geschieht, wenn ein zeitgenössischer Choreograf nach Buenos Aires fliegt, um zusammen mit argentinischen Tangotänzern und -musikern ein Stück zu erarbeiten? Die Erwartungen waren hoch an Sidi Larbi Cherkaoui, denn der belgische Tänzer und Choreograf ist ein Spezialist für "Fusionen" im Tanz. Schon als Jugendlicher übte er sich selbst in Ballett, Flamenco, Hip-Hop und Breakdance - und wurde schliesslich Mitglied der weltberühmten Ballets C de la B.
Doch mindestens ebenso bekannt wie für seine tänzerische Beweglichkeit wurde er für seine künstlerische Flexibilität. Er arbeitete mit bildenden Künstlern und Shaolin-Mönchen, liess sich von einem japanischen Manga-Zeichner (Tezuka) inspirieren und fand sich mit der Flamencotänzerin María Pagés zum Duett, mit der indischen Tänzerin Shantala Shivalingappa oder mit einem weiteren Grenzgänger zwischen den Tanzkulturen, Akram Khan. Und jedes Mal war das Ergebnis eine atemraubende Neuschöpfung, in der beide Seiten zu etwas bisher Unbekanntem fanden.
Kreativ, aber auch klischiertIm Auftrag des Tanzfestivals Steps, des Théâtre Vidy in Lausanne und des Théâtre du Jorat in Mézières, die neben grösseren Playern wie dem "Sadler's Wells" in London zu den Co-Produzenten gehören, reiste Sidi Larbi Cherkaoui also nach Buenos Aires, um sich vom Tango beeinflussen zu lassen. Das Ergebnis ist "M¡longa", ein Stück für fünf argentinische Tangopaare und zwei zeitgenössische Tänzer, das am Wochenende im Rahmen von Steps am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich zu sehen war.
Doch diesmal blieb die Einzigartigkeit, die man erwartet hatte, zunächst einmal aus. Die emotionale Kraft des argentinischen Tangos scheint den Belgier sprachlos gemacht, seine Kreativität quasi überfahren, ja überrollt zu haben. Auf den ersten Blick ist "M¡longa" über weite Strecken eine - sehr schöne, sehr kreative, sehr virtuose, ja grossartige - Tangoshow geworden. Mit allem, was dazugehört: Da sind die wirbelnden Beine der Frauen, die sich in Ochos, Ganchos und Boleos um die eleganten Männer zirkeln. Da sind die Männer, die sich gegenseitig - fast wie in einer B-Boy-Battle - auszustechen versuchen. Da ist die einsame Tänzerin, die sich eine Nacht oder auch nur eine Melodie lang in der Sehnsucht nach Zweisamkeit verliert. Und dazu erklingt das melancholische Seufzen des Bandoneons.
Alles Klischee also? Mitnichten. Denn immer wieder blitzt das auf, worauf man gewartet hat und was diesen Abend schliesslich doch aussergewöhnlich macht. Die Choreografien der Tangopaare gehen weit über das hinaus, was sonst geboten wird. Die Tänzer brillieren nicht nur mit akrobatischen Figuren und Gelenkigkeit, sondern finden zu neuen Ausdrucksformen.
Zu starke FaszinationDer Austausch mit den zeitgenössischen Tänzern macht die Tangochoreografien kreativer und schafft Raum für Zwischentöne. Bleibt aber beschränkt. Erst, wenn das zeitgenössische Paar sich aus dem Tangoknoten löst und seine Interpretation der Zwiesprache zeigt, wird erahnbar, was alles möglich gewesen wäre, wenn sich Cherkaoui etwas weniger von der Faszination des Tangos hätte verführen lassen. Wenn er nicht nur zwei Tänzer aus seiner Companie den fünf Tangopaaren gegenübergestellt hätte. Wenn er dem Tango eine stärkere zeitgenössische Antwort gegeben hätte.
In der ist das gelungen. Die modernen Tangos, die in enger Zusammenarbeit des Tangoorchesters von Fernando Marzan mit Szymon Brzóska, Hauskomponist bei Cherkaoui, entstanden sind: Sie klingen neu und sind doch echte, tanzbare Tangos. Sie bilden die Basis dieser immerhin ersten Neuinterpretation dessen, was sonst an Tangoshows so durch die Welt tingelt.
Weitere Vorstellung: 17. Mai, Freiburg; www.steps.ch. (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 12.05.2014, 07:56 Uhr)