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Bürokratie erschwerte Evakuierung aus Afghanistan | MDR.DE


Familie S. wartet seit Tagen vergeblich auf eine rettende Rückmeldung. Statt mit einem Flieger der Bundeswehr das Land zu verlassen, sitzt Frau S. mit ihrem Mann, den fünf Kindern sowie ihrer Schwester weiterhin in Kabul fest. Wie es in den kommenden Tagen weiter geht, wissen sie nicht. Zwei Nächte lang habe die Familie vor dem Flughafen in Kabul ausgeharrt, sagt die Deutschlehrerin, die in Kabul an einer Mädchenschule unterrichtete.


Unübersichtliche Lage am Kabuler Flughafen

Weil die Situation am Flughafen zu angespannt gewesen sei, habe sich die Familie wieder zurückgezogen. Unter anderem hätten die Taliban ihre Kinder und ihren Mann geschlagen. erzählt Frau S. dem MDR.

Beinahe 17 Jahre lang habe Frau S. als Deutschlehrerin an einer Mädchenschule gearbeitet. Zwar war sie über das afghanische Bildungsministerium beschäftigt, finanziert wurde die Schule, ein Modellprojekt, jedoch über deutsche Fördermittel. "Ich habe Deutschland jahrelang gedient. Erst für den Akademischen Austauschdienst. dann für die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Jetzt möchte ich, dass man mir hilft", sagt Frau S.

Aufgrund ihrer Anstellung habe die Frau nach eigenen Angaben schon vor der Machtübernahme der Taliban mit Anfeindungen zu tun gehabt, weil sie für die Deutschen tätig war und sich "unislamisch" verhalten habe. Nun, so berichtet sie verzweifelt, sind sie und ihre Familie im sonst so sicher geglaubten Kabul den Taliban ausgeliefert.


Schwierige Kontaktaufnahme mit Deutschen Behörden

Etliche Hilferufe per Telefon erreichen auch den Sächsischen Flüchtlingsrat. "Wir erhalten permanent Anrufe von verzweifelten Menschen, die sich noch in Afghanistan aufhalten oder von Angehörigen, deren Verwandte noch in Afghanistan sind", sagt Sprecher Dave Schmidtke. Als Beratungsstelle versuchte der Sächsische Flüchtlingsrat in der vergangenen Woche auch bei der Evakuierung weiterzuhelfen. Das sei jedoch laut Schmidtke auch für behördenerprobte Berater eine knifflige Aufgabe.

Die Informationen zur Evakuierung der verschiedenen Staaten, die wir versuchen weiterzuleiten, ändern sich täglich. Es ist ein einziges Chaos.

Dave Schmidtke | Sächsischer Flüchtlingsrat

Eine ähnliche Situation erlebt auch Christina Riebesecker von der AG Asylsuchende aus Pirna. "Die Situation ist wirklich dramatisch. Uns liegt etwa ein Fall von einer afghanischen Frau mit einem deutschen Aufenthaltstitel vor, die ihren Sohn in Afghanistan nach einer Operation gepflegt hat. Trotz ihres deutschen Aufenthaltstitels schafft sie es derzeit aber nicht aufs Flughafengelände in Kabul", berichtete Riebesecker in der vergangenen Woche.

Die verschiedenen Initiativen und Vereine versuchen nun weiterhin dabei zu helfen, die richtigen Ansprechstellen zu vermitteln sowie die Daten möglichst vieler Schutzbedürftiger an das Auswärtige Amt zu schicken. "Bereits am Dienstag sind wir allerdings dazu übergegangen, den Leuten zu raten, sich eher an die Botschaften in den Anrainerstaaten zu wenden, denn ob die Personen auf die Evakuierungsliste gelangen und wie das Auswärtige Amt verfährt, ist uns völlig unklar. Viele warten verzweifelt auf eine Rückmeldung", schildert Schmidtke seine Erfahrungen.

Keine Informationen über weiteres Vorgehen für Ortskräfte

Warum auch Frau S. und ihrer Familie bis dato keine weiteren Informationen erhalten, dass kann sich die Lehrerin nicht erklären. Bereits am 16. August hatte sich eine deutsche Bekannte darum gekümmert, die Familie über das Auswärtige Amt auf die Evakuierungsliste setzen zu lassen. "Ich habe dann am nächsten Tag einen Anruf von der Botschaft bekommen. Man hat nach den Pässen der Kinder gefragt und wie weit ich vom Flughafen weg bin, aber Anweisungen gab es keine. Wir sind dann einfach zum Flughafen gegangen."


Auch im Falle der Familie aus Pirna wartet die AG Asylsuchende seit Tagen vergeblich auf Informationen. "Das Auswärtige Amt hat sich nach einer Mailadresse erkundigt, danach haben wir nichts mehr gehört", schildert die Beraterin Christina Riebesecker.

Bürokratische Hürden erschwerten Evakuierung aus Kabul

Wie absehbar diese chaotische Situation war, schilderte am Dienstag auch Marcus Grotian in der Bundespressekonferenz. Der Bundeswehroffizier, welcher über ein Partenschaftsnetzwerk unter anderem "Safe Houses" für gefährdete Ortskräfte in Kabul betrieben hat, erhob schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung und ihren unkoordinierten Abzug der deutschen Truppen. Immer wieder habe man in den vergangenen Monaten die Bundesregierung darauf hingewiesen, wie ineffizient die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Ministerien hinsichtlich der Evakuierung der Ortskräfte sei, erklärte Grotian.

"Seitdem der deutsche Truppenabzug im April bekannt wurde, haben wir als Journalistinnen und Journalisten bei den Ministerien immer wieder nachgehakt. Immer wieder wurde uns versichert, man würde die gefährdeten Ortskräfte ausfliegen wollen. Diese müssten aber zunächst eine Gefährdungsanzeige stellen", sagt auch Daniel Lücking. Der heutige Journalist war selbst mehrfach als Offizier der Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt. Eben diesen Bestandteil des Visaverfahrens, die Gefährdungsanzeige, kritisiert auch Grotian scharf. Viele Ortskräfte seien nicht darüber informiert gewesen, dass sie eine Gefährdungsanzeige stellen mussten und dass ohne diese der Visumsantrag unzulässig ist.

Laut Grotian war das Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kabul, welches durch das Auswärtige Amt damit betraut worden war, die Beantragung des Visums vor Ort zu unterstützen, lange Zeit nicht erreichbar. Erst seit dem 2. August war ein Kontakt zum Büro über Mail möglich. Zu den Vorwürfen äußerte sich das Kabuler IOM-Büro auf MDR-Anfrage bisher nicht. Ein ursprünglich geplantes zweites Büro in Masar-e-Sharif, so bestätigt das Auswärtige Amt, sei aus Sicherheitsgründe gar nicht erst in Betrieb genommen worden.

Nur Menschen mit amerikanischen Dokumenten kommen auf den Flughafen

Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, man sei mittlerweile zu einem "Visa-on-Arrival"-Verfahren übergegangen, um die bürokratischen Hürden der Visavergabe zu umgehen. Die Informationen zu den einzelnen Ortskräften erhalte das Amt von den jeweilig involvierten Ministerien. Dem MDR teilt ein Sprecher zudem mit, dass neben den Ortskräften auch schutzbedürftige Personen wie Journalistinnen, Frauenrechtlerinnen und Künstlerinnen ein Anrecht auf Evakuierung hätten. Wie viele Personen aus diesem Personenkreis evakuiert werden konnten, kann allerdings aktuell niemand sagen.

Über die eingerichtete Hotline des Amtes erreiche er eine Sachbearbeiterin, die ihm dazu geraten habe, niemanden mehr zum Flughafen zu schicken, sagte Dave Schmidtke vom sächsischen Flüchtlingsrat.

Deutsche Soldaten für Schutzbedürftige am Kabuler Flughafen nicht erreichbar

Auch die Schilderungen von Frau S. legen nahe, dass die Chancen über die deutschen Truppen evakuiert zu werden in der Realität gering waren.

Nach Auskunft des Verteidigungsministeriums sind die deutschen Soldaten am Flughafen für die Absicherung der vom Auswärtigen Amt durchgeführten Registrierung und der Schleusung zu den Flugzeugen zuständig. An den Zugängen seien die Soldaten der Bundeswehr hingegen nicht permanent eingesetzt gewesen. Wie genau es in dieser unübersichtlichen Situation schutzbedürftige Personen, die nicht also Ortskräfte eingesetzt waren, auf die Liste der zu evakuierenden Personen oder gar auf das Flughafengelände hätten schaffen sollen, konnte auch das Auswärtige Amt dem MDR nicht erklären.


Am Freitagmorgen, dem ersten Tag nach dem Ende der deutschen Mission vermeldet die Bundeswehr 5.340 Evakuierte. Vielen weiteren Menschen kann mit dem endgültigen Abzug der deutschen Truppen nicht mehr geholfen werden. Dafür erntet die Bundesregierung Kritik von vielen Seiten. Auch Daniel Lücking erklärt, dass aus seiner Perspektive die Ereignisse der vergangenen Tage deutlich dafür sprechen, dass die Vorbereitungen auf den abrupten Abzug der Bundeswehr nicht ausreichend waren. "Es hätte seit Jahren ein Exit-Szenario der Bundeswehr existieren müssen, welches genau auf diese schnelle Evakuierung ausgelegt ist. Das was wir jetzt gerade in Kabul sehen, spricht ernsthaft dagegen, dass dieses Szenario jemals existierte", so der Offizier a.D.


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