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Tschechien: Vergesst nicht unsere Geschichte | BR.de

Solche Fragen blieben über viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für viele jüngere Bewohner in den tschechischen Grenzregionen unbeantwortet oder sie wagten sie nicht zu stellen. Ein Grund: Die Hinzugezogenen hatten keinerlei Bezug zu ihrer neuen Heimat und von der Politik waren solche Fragen nicht erwünscht. 70 Jahre nach der Vertreibung stellen sich die jungen Generationen genau solche Fragen, wollen ihren eigenen Kindern später mal vermitteln können, welche Geschichte ihr Dorf hatte - und all das aus Neugier - ohne Wertung.

Sie haben ein Tabu gebrochen, ob durch die Rettung eines Schlosses einer vertriebenen Adelsfamilie oder durch die Recherche über ein verlassenes Dorf im Grenzgebiet zu Bayern oder durch eine Bewegung, mit der Studenten vor 15 Jahren begonnen hatten - junge Tschechen entdecken einen Teil der Geschichte, der bisher verborgen blieb.

Jana Podskalská

So wäre es für Jana Podskalská vor 20 Jahren mehr als waghalsig gewesen, die Schlossruine in Poběžovice zu betreten - jetzt macht sie es, weil sie weiß, welche Schätze hier liegen.

Mit den Menschen ging auch die Geschichte

Tschechen und Deutsche - die Beziehungen zwischen den beiden Völkern war in den letzten 150 Jahren nie einfach. Sie gipfelte nach dem Zweiten Weltkrieg in der Vertreibung der Sudetendeutschen: Ein Trauma für sie, die ihre Heimat zurücklassen mussten. Und die Tschechen? Sie verbannten damit auch den deutschen Teil ihrer Landesgeschichte.

Aus einem Drittel der Landesfläche Tschechiens verschwanden die Deutschen - und so bekam das Land ein homogen, tschechisches Gesicht, als hätte es nie Deutsche hier gegeben. Das geschah vor 70 Jahren.

Und heute? Die Kleinstadt Poběžovice nördlich vom Böhmerwald, unweit der bayerischen Grenze: Auch wenn wenige Einwohner hier ihre Wurzeln haben, reichen die geschichtlichen Spuren bis weit vor 1945 zurück. Früher war der Ort vor allem unter seinem deutschen Namen bekannt: Ronsperg hatte eine jüdische, wie auch katholische Gemeinde - und ein Schloss. Bereits im 17. Jahrhundert wurde es erbaut. Schon 200 Jahre davor stand hier eine Burg. Bis zum Krieg diente das Schloss als Adelssitz der Familie vom Reichsgrafen Coudenhove-Kalergi.

Auch die Großeltern von Jana Podskalská sind erst nach dem Krieg hierher gezogen. Von der Geschichte des Schlosses hatte sie als Kind nie gehört.

Sie ging auf die Gemeinde zu und musste den Bürgermeister Hynek Říha von der Notwendigkeit des Schlosses erst überzeugen.

Initiativen und Vereine für den Erhalt von Baudenkmälern

Tatsächlich wurde in den 90er Jahren angefangen, einen Trakt zu renovieren. Doch die Fördergelder - wie der Bürgermeister sagt - versickerten meist in dunklen Kanälen. All das änderte sich, als Jana einen Verein gründete und alle gemeinsam anpackten.

Und der Verein schaffte noch mehr: Vom Dach zog nach jedem Regen Feuchtigkeit in die Wände, in manchen Zimmern bildete sich bereits Schimmel. Gemeinsam errichteten sie daraufhin Regenrinnen und installierten unterirdische Drainagen.

Jana und ihrem Verein ist völlig klar, dass die komplette Renovierung des Schlosses vorerst ein Traum bleibt. Darum geht es dem Verein auch nicht. Die Bürger hier stammen ja meist aus hinzugezogenen Familien - und die wollen sie fürs Schloss gewinnen.

Ihrem Verein schlossen sich viele ganz normale Bürger an: ein Archäologe, ein Polizist und - ein Deutscher aus dem Nachbarort Waldmünchen: Karl Reitmeier, der als Lokaljournalist regelmäßig in Böhmen unterwegs ist. Für ihn hatte Janas Idee etwas überraschend neues.

Verlassene und verfallene Kirchen

Und so entdeckten die Bürger, dass zur Geschichte des Schlosses auch gehört, dass Graf Richard Coudenhove-Kalergi hier lebte, der sich als Visionär in den 20er Jahren einen Namen verschaffte. Er träumte damals schon von den "Vereinigten Staaten von Europa."

Doch weder seine Nachkommen noch der Rest der Familie meldeten nach der Wende Besitzansprüchen an - damit hätten sie ohnehin keine Chance, meinen sie.

Knapp zehn Kilometer entfernt liegt der Ort Srby, auf Deutsch: Sirb. Auch hier gibt es Renovierungsbedarf - bei der katholischen Kirche, im 18. Jahrhundert gebaut und nach der Vertreibung vernachlässigt. Nicht verwunderlich, in einem Land mit den fast meisten Atheisten in der Europäischen Union. Jakub Děd leitet den Verein Omnium, der sich zum Ziel gesetzt hat, leer stehende Kirchen, Friedhöfe, Denkmäler, welche die Sudetendeutschen hinterlassen hatten, zu renovieren.

An den Wandbemalungen erkennt man noch deutsche Inschriften. Dem heiligen Johannes dem Täufer wurde die Kirche geweiht.

Einige Studenten sind Mitglieder im Verein, genauso wie Fachleute aus der Denkmalpflege. Dass ein privater Verein wie Omnium sich einer katholischen Kirche widmet, wäre vor 20 Jahren noch nicht denkbar gewesen.

Weiter südlich, im Böhmerwald, hinten liegt Bayern, hier auf der tschechischen Seite war früher ein streng bewachtes Grenzgebiet. Als der 16-jährige Luděk Němec als Kind mit seinen Eltern hierher Ausflüge unternahm, fielen ihm die vielen Ruinen auf. Es war vielleicht seine kindliche Neugier, die ihn fragen ließ: Wer hat hier gelebt? Wie wurde hier gelebt? Und: Warum lebt jetzt niemand mehr hier?

Der Geschichte auf der Spur

Als er 12 Jahre alt war, begann er nachzuforschen - er fand heraus, dass der Ort zwei Namen hatte: Krásná Hora auf Tschechisch, Schönberg auf Deutsch. Er fand heraus wie die Einwohner hießen und wo deren Familien heute lebten. Er bekam Fotos zugeschickt - und schoss eigene. Nach vier Jahren konnte er damit - als 16jähriger - ein Buch veröffentlichen.

So kam er auch in Kontakt mit Heinz Pollack, er entstammt einer Vertriebenenfamilie von hier. Von seinen Eltern hat er einige Fotos aus der alten Heimat, in der er vor der Wende nie war. Nachdem die Grenzen offen waren, hatte er gleich die Gelegenheit genutzt - und kam hierher.

Auch er hat ein Buch geschrieben über die verlorene Heimat seiner Eltern.

Schuld oder Untrecht durch die Vertreibung - darum geht's dem jungen Luděk Němec nicht. Er hat sich an einer Bestandsaufnahme versucht, hat Fakten gesammelt - ohne sie zu werten.

Die Zahl der verschwundenen Dörfer im Böhmerwald wird auf knapp 100 geschätzt.

Auch in Nordböhmen, in Řehlovice, dem ehemaligen "Groß-Tschochau" stehen Ruinen. Diese gehören zu einem Hof, der bis zur Vertreibung einem deutschen Gutsbesitzer gehörte - und danach von den Anwohnern als Müllhalde genutzt wurde. Vor 20 Jahren kaufte die Familie Holík aus dem nächst größeren Ort Aussig den Hof, weil der Vater hier nach der Wende ein Unternehmen betreiben wollte. Vor 15 Jahren übernahm Tochter Lenka Holíková das Anwesen. Sie ist gelernte Designerin und ließ sich inspirieren von der deutschen Vergangenheit des Hauses, in dem sie lebt und arbeitet. Sie begann mit ihren Kulturprojekten: Mit tschechischen und deutschen Künstlern. Die Nachbarschaft war damals noch misstrauischen.

Heute ist das daraus geworden: Künstler aus alle Teilen Deutschlands und Tschechiens kommen angereist für einen Kulturbrunch. Sich persönlich kennenlernen - das ist ihnen mindestens genauso wichtig wie die Ausstellung und der Verkauf der mitgebrachten Kunstgegenstände. .

Der Hof nennt sich "Kulturzentrum", dabei handelt es sich hier um eine reine spendenfinanzierte Privatinitiative, weder die Gemeinde noch sonst eine öffentliche Einrichtung haben an den Aktionen Anteil.

Junge Menschen in Tschechien haben dem Land etwas möglich gemacht: Einen neuen Blick auf die eigene Vergangenheit zu werfen, auf die Vergangenheit der Völker die in Tschechien lebten und deren Geschichte auch zu erhalten. Deutsch-tschechische Zusammenarbeit war ein Tabu. Auch diese Menschen haben geschafft es zu brechen.

(Dieser Text ist eine stark gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung des Beitragstexts, den Sie hier unten auch vollständig herunterladen können.)
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