Nils Kahlefendt

Autor und Journalist, Leipzig

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Reportage

Das neue Bio

Angesichts globaler Konzentration setzen Indie-Verlage auf internationale Vernetzung.

Um einen flotten Spruch ist Jörg Sundermeier nie verlegen. Doch als am Wochenende vor der Buchmesse in Paris ein Kollege aus Kamerun, höflich und bestens informiert, zum VG-Wort-Urteil kondolierte, klappte dem Chef-Verbrecher die Kinnlade herunter: Offenbar weiß man in weltweiten Indie-Kreisen mehr über die hiesige Branche, als in Deutschland über den Rest des Globus. Sundermeier war als Vize der Kurt-Wolf-Stiftung (KWS) erstmals zu einer Tagung der International Alliance of independent publishers gereist, eine 2002 in Paris gegründete Non-Profit-Vereinigung, der inzwischen mehr als 400 Verlage aus 46 Ländern angehören. Bald vielleicht auch Verbündete aus Deutschland, der Schweiz und Österreich?

Eines der Schlüsselthemen der Allianz ist die Idee von „Bibliodiversity“, ein Begriff, der zuerst in den 1990er Jahren von chilenischen Verlegern aufgebracht wurde und ein „organisches“ verlegerisches Konzept umschreibt, dass sich von der bestsellergetriebenen Produktion der großen Konzerne unterscheidet: Die Herstellung kultureller Vielfalt unter besonderer Berücksichtigung vermeintlich „kleiner“ Literaturen, ökologisches Bewusstsein, die Überwindung des Nord-Süd-Gefälles – am Ende gar so etwas wie das neue Bio der weltweiten Indie-Verlagsszene. Sundermeier und eine ebenfalls nach Paris gereiste SWIPS-Verlegerin waren begeistert vom Elan und den Ideen der Alliierten: So wird in Lateinamerika, wo unabhängige Verlage von Konzernen wie Random House Penguin oder Planeta in den Schwitzkasten genommen werden, am Welttag des Buches ein „Día de bibliodiversidad“ gefeiert – eine Art Indiebookday mit Volksfestcharakter.

Dass Menschenrechte und die Freiheit des Wortes ganz oben auf der Agenda der Alliance stehen, versteht sich von selbst: Muge Sokmen, die charismatische Chefin des Istanbuler Metis Verlags und neue Koordinatorin der englischsprachigen Sektion der Alliance, gehörte neben PEN und der französischen Literaturagentur Astier-Pécher zu den Organisatoren einer Solidaritätsaktion für die Autorin Asli Erdogan, die am Messemittwoch Verleger, Übersetzer, enge Kollegen und Freunde in einem bunkerartigen Nebenraum von Halle 5 versammelte. Erdogans deutschsprachiger Verleger Lucien Leitess, der Postkarten mit ihrer Gefängnisanschrift neben die Petition legte, fühlte sich an die Worte von Yaşar Kemal erinnert: „Gefängnisse sind eine Schule der türkischen Literatur.“ Ein anderes Jahrhundert, doch die Geschichte geht weiter. Und Jörg Sundermeier? Der hat aus Paris nicht nur einen im nächtlichen Hotelzimmer ergoogelten Begriff mit nach Deutschland gebracht – sondern auch ein Buchmanuskript. „Bibliodiversity. A Manifesto for Independent Publishing“ der australischen Autorin und feministischen Verlegerin Susan Hawthorne wird, wenn alles gut geht, im kommenden Frühjahr im Verbrecher Verlag auf Deutsch erscheinen.

Um Institutionen wie die KWS, den Deutschen Buchhandlungspreis oder die Hotlist der unabhängigen Verlage dürfte uns mancher Alliance-Aktivist aus dem Senegal oder Indien beneiden. Wie vielfältig und vital die deutschsprachige Bücherlandschaft ist, ließ sich bei taz-Kaffee und knapp 80 Veranstaltungen in fünf Messetagen unter anderem an der Leseinsel der unabhängigen Verlage live erleben. Dort wurde auch die druckfrische Ausgabe des Katalogs der Indie-Verlage („Es geht um das Buch“) präsentiert. Ein – dank der Förderung der Bundeskulturstiftung und der Unterstützung von KNV, Libri, Prolit und sova - zur Normalität gewordenes kleines Wunder, das in seiner elften Ausgabe ein Novum bereithält: Für die Bildstrecke, die meist gut abgelagerte Preziosen aus der Bibliothek des Namenspatrons der Stiftung enthielt, kletterten die Gestalter diesmal ins Archiv von Peter Hinke: Auf fünf Doppelseiten werden die Ausgaben des von Hinke 1988/89 in Leipzig herausgegebenen Underground-Magazins Sno’Boy vorgestellt – und damit unabhängiges Verlegen in DDR-Zeiten.

Für den Buchhändler und Verleger aus Leipzig war 2016 ein gutes Jahr; und auch viele seiner Kollegen freuen sich über die seit längerem gestiegene Aufmerksamkeit für die Indie-Buchwelt: Große Preise, das hat nach Matthes und Seitz 2015 heuer die FVA beglückt, gehen längst nicht mehr nur an große Verlage, die digitale Konkurrenz hat handwerkliche und gestalterische Vorzüge der Buchperlen aus Independent-Produktion wieder in den Fokus gerückt. Dennoch dürfte sich, als die in der KWS assoziierten Verlage am Messefreitag – passender Weise im Raum „Goodwill“ - zusammenkamen, auch Wasser in den Wein gemischt haben. „Die bald fälligen Rückforderungen der VG Wort und VG Bild-Kunst werden dazu führen, dass geplante Buchprojekte nicht umgesetzt werden können“, fürchtet etwa KWS-Vorstand Leif Greinus (Voland & Quist). „Die Vielfalt am Buchmarkt ist also beeinträchtigt.“ Im Klartext: Messebeteiligungen stehen auf dem Prüfstand, damit die oft beschworene öffentliche Sichtbarkeit der Verlage. Ohne rasche Kompensation dürfte einigen die Insolvenz drohen. Unter den Verlegern grummelt es angesichts der letztlich zu langsam tätigen Politik; zwar gebe es einerseits viele Solidaritätsbekundungen, auch von Autoren, andererseits keine greifbaren Ergebnisse.

„Der Markt wird immer kleiner, der Mainstream breiter“, sagt Michael Heitz von Diaphanes (Zürich/Berlin), der vor 15 Jahren begann, provokante Namen aus der italienischen und französischen Theorieproduktion auf Deutsch zugänglich zu machen. „Wir haben sehr spitze Zielgruppen, die sich aber über den ganzen Globus verteilen.“ Längst hat sich der Verlag, in dem pro Jahr rund 60 Titel erscheinen, international gut aufgestellt: Seit mehreren Jahren gibt es neben dem deutschen auch ein französisches wie ein englischsprachiges Programm, letzteres angedockt bei Chicago University Press. Das macht den Verlag einerseits wirtschaftlich weniger risikoanfällig, zum anderen floriert so der Austausch mit anderen „intellektuellen Landschaften“.

Genau den suchte auch der Mairisch Verlag, als er Anfang des Jahres zur „Klassenfahrt“ nach Amsterdam aufbrach; inzwischen ist Frankreich, Ehrengastland der Frankfurter Buchmesse 2017, auf dem Radar. „Wir wollen Kontakte knüpfen, Verständnis füreinander aufbauen, lernen, wie die Literaturszenen und Märkte außerhalb des deutschen Sprachraums ticken“, erklärt Verleger Daniel Beskos. Das kann zu überraschenden Einsichten führen: In Holland etwa gibt es keine Amazon-Konkurrenz und hohe Buchpreise – aber faktisch auch keine Indie-Szene, die nur annähernd mit den deutschen Strukturen vergleichbar wäre. Ob unabhängige Verlage hierzulande nun auf einer preisbindungsgeschützten Insel der Seligen leben oder bald zu den bedrohten Arten zu rechnen sind, ist eine Sache des Blickwinkels. Wirklich spannende Entdeckungen, das zeigte Frankfurt eindrücklich, macht man wohl nur außerhalb der Komfortzone.