Nikta Vahid-Moghtada

Freiberufliche Journalistin und Redakteurin, Berlin / Leipzig

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Gerichtsmediziner Rüdiger Lessig: Dem Tod so nah wie kaum ein anderer

Rüdiger Lessig ist ein fröhlicher Mann. Einer, der beim Reden viel lacht und dabei dieses sympathische Funkeln in den Augen hat. Dass er dem Tod jeden Tag so nahe kommt wie kaum ein anderer Mensch, merkt man nicht.

„Es gibt ja eine gewisse Grundeinstellung im Leben: Für die einen ist das Glas halbvoll, für die anderen halbleer." Sein Glas sei halbvoll, sagt Lessig. Wer sonst, wenn nicht er, kann solch zunächst recht banal klingende Sätze sagen? „Man sollte den Tag genießen, denn man weiß nicht, was morgen ist." Anhand der Fälle, die seinen Arbeitsalltag bestimmen, werde ihm das immer wieder vor die Augen geführt. „Man sollte immer versuchen, das Positive mitzunehmen", sagt der 58-Jährige. Und er lächelt.

Gerichtsmediziner in Halle: Leipziger mit Leib und Seele

Der „Leipziger mit Leib und Seele", wie er sich selbst bezeichnet, ist seit 2010 Chef der Gerichtsmedizin in Halle. Nach seinem Abitur studiert er fünf Jahre lang Zahnmedizin in Russland. Dass er mal Rechtsmediziner würde, wusste er damals noch nicht. „Man musste sich in der DDR den Studienplatz erdienen. Es gab aber die Möglichkeit, auch im Ausland zu studieren - und somit fielen die drei Jahre bei der Nationalen Volksarmee weg." Bis heute habe er keinen einzigen Tag gedient, sagt Rüdiger Lessig. „Ich bin ein ungedienter Reservist der Nationalen Volksarmee." Und darüber sei er heilfroh.

Zurück in Deutschland wurde in der Gerichtsmedizin in Leipzig ein Zahnarzt gesucht. „Zahnärzte sind für die Identifizierung von unbekannten Toten extrem wichtig", erklärt er. Denn anhand der Zähne könne man etwa feststellen, ob der Tote jemand ist, der vermisst wird oder nicht. Sein damaliger Chef habe ihn dazu gebracht, noch Humanmedizin zu studieren. „Dafür bin ich ihm heute noch dankbar." Bis 2010 arbeitet er als Rechtsmediziner am Institut in Leipzig. Seinen Job betrachtet der erfahrene Mediziner ganz nüchtern: „Es ist völlig egal, ob sie als Arzt mit Toten oder Lebenden zu tun haben", sagt er, in jedem Fall müsse eine professionelle Distanz gewahrt werden. „Das heißt natürlich nicht, dass wir emotionslos sind", sagt er - doch anders sei die Ausübung seines Beruf kaum möglich. „Wir müssen völlig unbeeinflusst arbeiten."

Schon zu Beginn des Studiums haben angehende Ärzte mit Toten zu tun - ein Zustand, an den man sich gewöhne. Trotzdem gebe es auch Fälle, in denen er emotional werde. Man müsse sich dann überlegen: „Kann ich das weitermachen, oder muss ich mich aus der Geschichte herausziehen?" Er erinnert sich an seine Situation aus seiner Zeit in Leipzig. Nach einem schweren Bahnunfall mit mehreren Toten habe er einen Kommilitonen. „Das ist dann schon unangenehm. Und man würde nie auf die Idee kommen, jemanden aus der Familie, aus dem Freundes- oder Mitarbeiterkreis zu obduzieren. Das macht man einfach nicht." Die Unabhängigkeit als Sachverständiger sei dann nicht mehr gewahrt, man sei befangen.

Gerichtsmedizin in Halle: 700 bis 750 Obduktionen pro Jahr

Auf seinem Tisch landen Fälle, bei denen die Todesart nicht geklärt ist, außerdem alle nicht natürlichen Todesfälle und alle, die nicht identifiziert werden können. „Das unterscheidet uns von den Pathologen: Die kümmern sich um die natürlichen Todesfälle", sagt der Fachmann. 700 bis 750 Obduktionen führt er in Sachsen-Anhalt mit seinem Team durch - pro Jahr.

Sein Alltag sei jedoch weniger spektakulär als das Bild des Rechtsmediziners, das an Sonntagabenden im Fernsehen vermittelt werde. „Der einzige, den ich mir anschauen würde, wäre der Tatort mit Herrn Börne. Weil ich ihn für einen guten Schauspieler halte." Aber auch aus fachlicher Sicht halte er ihn für kompetent: „Der hat sich gut beraten lassen", sagt Rüdiger Lessig. Aber: „Dass wir ermitteln, wird nie passieren! Weil uns dann jeder Verteidiger im Strafprozess wegen Befangenheit aus dem Verfahren kicken könnte." Herr Börne wäre im wahren Leben also schon arbeitslos.

Sein Tag beginne bereits auf dem Arbeitsweg: „Wenn ich morgens nach Halle fahre, dann höre ich Radio, informiere mich und weiß, was mich gegebenenfalls erwartet. Ich kümmere mich eher um administrative Dinge", sagt Rüdiger Lessig. Er fügt hinzu: „Ich muss dafür Sorge tragen, dass abends, wenn ich gehe, alle Fenster im Institut zu sind und dass genügend Klopapier im Haus ist." Und dann lacht er wieder. (mz)

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