Nach oben, da will doch jeder hin, jeden Tag aufs Neue. Rein in den Aufzug, Stufe für Stufe, Knopf kurz gedrückt halten, höher und höher, ran an die Arbeit. André Ellsel ist einer, der gar nicht nach oben will. Alexanderplatz, gefühlte Mitte Berlins, Nabel einer Touristenwelt, Bürogebäude, Kaufhäuser, den Kopf kurz in den Nacken gelegt - der Fernsehturm, alles strebt nach oben, gen Sonne, gen Wohlstand, Ellsel hingegen steigt hinab. Verlässt die Erdoberfläche, Stufe für Stufe, bis er angekommen ist dort unten, in der City-Toilette, Ellsels Arbeitsplatz. "Jetzt bin ick Kellerkind, sag ick immer", Ellsel lächelt. "Ick seh keen Tageslicht."
Die Augen wach, der Blaumann zu großDer Mensch muss, jeder Mensch muss, und wer mitten in plötzlich muss, kann zu André Ellsel kommen. 50 Cent, durchs Drehkreuz, "Hey, Lady!", "Hey, Mister!", begrüßt Ellsel seine Gäste, ja, als solche empfindet er sie. Groß oder klein, Ellsel macht da keinen Unterschied, die Geschäfte der anderen ekeln ihn nicht, "außer wenn es mal richtig zugekackt ist, sag ick mal". Wenn sich die Menschen erleichtert haben, wischt Ellsel mit Desinfektionsmittel hinterher, spült, klappt den Deckel der Toilette nach oben, fertig. 55 Jahre alt ist Ellsel, der Körper hager, die Augen wach, der Blaumann eine Nummer zu groß, wirkt jedenfalls so.
Wenn Ellsel nicht wischt und spült und klappt, sitzt er in seinem Büro, das sich direkt neben den Toilettenräumen befindet. Man bemerkt, dass selbst die Arbeit auf einer öffentlichen Toilette Aktenschränke braucht, es gibt einen kleinen Kühlschrank, Mikrowelle, Kaffeemaschine, einen Tisch. Jeden Tag ist André Ellsel hier unten, Schicht von 7 bis 14:45 Uhr, Ellsel sagt trotzdem, korrekter Typ, "7,25 Stunden", weil er 30 Minuten Pause hat. In denen steigt auch er nach oben, Licht, Sonne, Fernsehturm. Isst nie, "nee, auf Toilette bekommt mir dit Essen nich so", sondern schlendert umher, S-Bahnhof, Volksfest, Weihnachtsmarkt, oben ist immer irgendwas los. Nach einer halben Stunde steigt Ellsel dann wieder hinab.
Ellsel ist einer, der von allen Menschen erzählen kann, weil jeder mal muss. Kinder fragen, ob sie schnell mal unterm Drehkreuz durchschlüpfen dürfen (dürfen sie). Manch ein Erwachsener braucht Kleingeld, fürs Drehkreuz, so wie jetzt, Ellsel sagt: "Hallo Lady, ick wechsle Ihnen dit mal. Da drüben steht der Wechselautomat, jeben se ma' her", dann, einen Moment später: "Hallo Mister, nee, Scheine nimmt der nich, aber komm'se einfach rin, ist ja keen Ding." Passieren, erleichtern, "Tschüss, Lady!", "Tschüss, Mister!" Kneipen haben Stammgäste, Friseure haben Stammgäste, André Ellsel hat Stammgäste. Die schwangere Frau, die eines Tages herunterkam und dann über die Jahre immer wieder; Ellsel sah ihrem Kind dabei zu, wie es groß wurde. Der 90-jährige Weltkriegsveteran der Roten Armee. Der Wohnungslose, den er hier immer umsonst pinkeln lässt. Lange hat er ihn nicht mehr gesehen, Ellsel wird nachdenklich, er befürchtet Schlimmes.
Die Abhängigen, die Verlorenen, sie bleibenDie B.Z., die "Stimme Berlins", eine Boulevardzeitung, nennt den Alexanderplatz ein "Schmuddelkind", einen "Problem-Platz": Berliner, Touristinnen, sie kommen und gehen, die Abhängigen, die Verlorenen, sie bleiben. Alkohol, Drogen, das ganze Programm. Müssen sie, gehen manche runter zu Ellsel. Leute, die Beine "kaputtgespritzt" vom Heroin, "das is allet scheiße so wat". Ellsel schüttelt den Kopf. "Geht zum Arzt, Mensch, ihr seid septisch, ihr steckt hier allet an, Mensch. Ick muss doch an meene Gäste denken."
Als es die DDR noch gab, war der Alexanderplatz so etwas wie eine schicke Visitenkarte. Die Weltjugendfestspiele 1973, die Feiern zum 25. Jahrestag der DDR 1974, die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Kriegsendes 1975 - der Alexanderplatz wurde zum Zentrum Ostberlins, der Fernsehturm sein Wahrzeichen. An die DDR hat Ellsel keine guten Erinnerungen. Er war bei der Nationalen Volksarmee, lernte Facharbeiter für Fernmeldewesen, machte die Nachrichtentechnik. "Wir müssen unseren Frieden und Sozialismus mit der Waffe in der Hand verteidigen", diesen Lehrsatz kann er heute noch aufsagen. Er schüttelt den Kopf. "Boah, nee! Und ick war dabei."
André Ellsel sagt, dass er in den Achtzigerjahren gemerkt habe, dass sich etwas veränderte: Krieg? Oder doch Frieden? Gar Freiheit? Unruhen, Demonstrationen, Aufmärsche, Ellsel hatte Angst, er hatte ja einen Eid geschworen, wollte aber nicht für dieses Land sterben. "Dann bin ick zu meinem Oberst jegangen und hab jesagt: Ick hör auf." Er entschied sich für einen Zivilberuf, in einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, machte eine Ausbildung zum Landmaschinenschlosser. Er lernte, Traktoren und Mähdrescher zu reparieren. Und dann - "wurde allet verkooft. Für eine Mark, Treuhand. Alle Kühe weg." Sie war da, die Wende.
"Ich sachte meiner Frau: Ick werd Pilot!" André Ellsel, 55, Reingungskraft
In dem kleinen Büro verschränkt Ellsel seine Arme, blickt auf den Boden. Während der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl von "blühenden Landschaften" sprach, die im wiedervereinten Deutschland entstehen sollten, verlor Ellsel seinen Job. Er begann als Fernfahrer zu arbeiten, später in einem Betrieb für Solaranlagen. Lange dauerte es nicht, bis Ellsel wieder arbeitslos wurde - die Konkurrenz aus Asien war zu hart, der Betrieb ging pleite. "Dann hab ick mich beworben, sogar bei der Lufthansa. Ich sachte meiner Frau: Ick werd Pilot! Ick hab mich aber ooch bei Wall beworben."