Normalerweise höre ich selten Singles. Meistens schaue ich lediglich Musikvideos einmal an. Das zweite Hören eines Songs passiert dann erst mit der Album-VÖ. „ Athen" ist einer der seltenen Fälle, in denen das nicht so war. Schon der gleichnamige Titeltrack hat mich komplett in seinen Bann gezogen und einige Tage nicht mehr losgelassen. Was ich damit vor allem ausdrücken will: Meine Erwartungen an „ Athen" sind wahnsinnig hoch. Dass der Release dann nochmal zwei Monate nach hinten geschoben werden musste, erhöhte sowohl Vorfreude, als auch Spannung. Vor der Veröffentlichung sind nun schon sieben von 13 Tracks als Singles erschienen, was einem Album nach meiner Erfahrung nicht gut tut. Viele Songs sind schon bekannt, einige vielleicht schon so oft rotiert, dass man vielleicht schon genug von ihnen hat. Mal schauen, wie „ Athen " damit umgehen kann.
Einer der meiner Meinung nach besten Songs der jüngeren Geschichte. Er funktioniert wahnsinnig gut als Intro, schafft eine wunderbare atmosphärische Grundlage für das gesamte Album, funktioniert aber auch davon losgelöst. Vor allem zeigt „ Athen", wie progressiv und modern auch der viel zitierte Grown Man Rap klingen kann, völlig losgelöst von billig adaptierten Triplet-Flows und Travis-Scott Adlips. Der ruhige und klare Sound wird von den übersteuerten Drums in der Hook, passend zur erzählten Geschichte einer langsam auseinandergehenden Liebe, aus dem Ruder geworfen. In dieser Dissruption nimmt Herre den Geist des Albums vorweg: Die Geschichte einer Reise, die immer wieder unterbrochen wird und nie ein wirkliches Ende findet. Das Ganze mündet schließlich in einem minutenlangen Instrumental-Part aus psychedelischem Rock und dem Sample eines griechisches Volksliedes für entsprechenden Lokalkolorit. Ganz großes Kino.
Die vermeidliche Ankunft in Athen. Nur um direkt wieder abzustürzen und langsam von den Wellen unter der Klippe weggetragen zu werden. Durchzogen wird der Song von Referenzen an Architektur und natürlich die griechische Hauptstadt. Auffällig ist schon hier, dass Songs auf der Platte quasi nahtlos ineinander übergehen und durch Beat-Wechsel zum Ende eines Songs bereits der Nächste eingeleitet wird.
Man braucht (Achtung: Wortwitz!) keine 7 Sekunden um zu erkennen, wer diese wunderbare Schlagzeug in die Pads seiner Drummachine gekloppt hat. Natürlich ist damit Dexter gemeint, dessen Beats durch Platzierungen von Snare und Bassdrum so unvergleichlich Rollen. Ein wunderbar nostalgisches Instrumental, dass perfekt auf den von Erinnerung geprägten Text passt. Wieder kommt Herre nirgends an, sondern huldigt lieber diesem Zwischen-Ort eines Flughafen Terminals, an dem nicht einmal mehr Reisen beginnen. Hier endet eine Trilogie an direkten Referenz-Songs an die titelgebende Stadt.
Der einzige Song auf der Platte, der den viel zitierten Zeigefinger hebt und sich direkt an eine jüngere Generation wendet. Die richtigen Antworten will der Protagonist dann allerdings doch nicht finden. Der Beat ist wieder eine wunderbare 90er-Remineszenz und schließt so nahtlos an „ Terminal C " an.
Ein eher schwer zu greifender Song, der wie „ Athen" am Scheideweg einer Beziehung ansetzt. Zwar verortet sich Herre wieder zurück in Berlin, hat aber keine Lust zu bleiben. Ankommen ist kein Thema, erneuter Aufbruch bahnt sich an. Die Frage ob zu zweit oder allein bleibt ungeklärt. Auch hier nimmt der Beat-Wechsel zum Ende bereits den nächsten Song vorweg.
Herre bringt hier nicht nur Annenmaykantereit und Kitschkrieg zusammen, sondern irgendwie auch Jamaika und Griechenland. Der reduzierte Dub-Beat trifft auf klar griechisch inspirierten Gesang, der dann auch noch ganz minimal mit Autotune versehen wurde. Was textlich auffällt ist ein genialer Kontrast aus Nähe und Distanz. Gegensätze auf allen Ebenen. So wechselt Herre in den Beschreibungen seines Vaters konstant zwischen dritter und zweiter Person. Diese Idee funktioniert nicht nur als Meta-Beschreibung einer schwierigen Vater und Sohn-Beziehung, sondern auch hervorragend im Reise-Kontext der Platte. Das Gefühl von Gänsehaut in Song-Gewand.
Herre symbolisiert die inneren Dämonen innerhalb der Nacht. Ein Sample des gleichnamigen Songs der DDR-Band Panta Rhei dient als Dreh- und Angelpunkt. Wobei in diesem Fall Sample schon fast zu wenig gesagt ist. Herres Version ist fast schon ein Cover des Originals, die Musik ist fast komplett entliehen. Der Klimax funktioniert hier sehr gut, was vor allem in der Dynamik des Instrumentals begründet liegt. Auch das wirre und zerhackte Soundgewand passt wunderbar. Wie schon auf „ Lass Gehen" befasst sich Herre auch hier kurz mit den eigenen Lügen.
Das Thema der Lüge verdichtet sich und wird mit Literatur-Referenzen unterfüttert. Diesmal geht der Song an Max Herres Mutter. Textlich übertrifft sich Herre selbst. Der rhetorisch wohl beste Song der Platte. Er verhandelt im Endeffekt sehr sympathisch und demütig die eigene Rolle in der Rap-Szene um die Jahrtausendwende. Schließlich kommt es zum Finale mit den Worten „Richte mich nach deinem Manifest/Häng mich auf an deinem Leitfaden." Ach Max.
Max Herre greift einen Kniff auf, der an Caspers „ Lang lebe der Tod" erinnert, und lässt die Hook von jeweils verschiedenen Künstlern singen. Hier baut Herre allerdings noch eine neue Ebene ein, durch die jeweiligen Biografien seiner Gäste von Abschiebung bis jüdischem Stammbaum. Dass Herre hier einen gesellschaftlich absolut wichtigen und richtigen Song abliefert braucht man hoffe ich nicht erwähnen. Daher sei auch verziehen, dass hier das eigentlich zeitlose Gewand von „ Athen " abgelegt und von der Aktualität unserer Situation gezerrt wird.
Ein sehr emphatischer Song, der weit über klischeehafte Oberflächlichkeiten herausgeht, trotz der Schwierigkeit als weißer Künstler einen Song in der Ich-Perspektive über migrantische Schicksale zu schreiben. Allerdings erschafft Herre sehr starke Bilder, die sehr einfühlsam wirken. Die Reise, die er im Intro aufmacht, dreht sich nun im Flucht-Kontext um 180 Grad. So setzt sich Herre mit den eigenen Privilegien auseinanderzusetzen und gibt der Platte einen weiteren wichtigen Kontrast. Durch das wieder aufgreifen bestimmter Worte und Szenen, wie des Weddinger Hinterhofs in diesem Fall, wird auch dieser Song wunderbar im übergeordneten Konzept platziert. Hinzu kommt noch eine extrem schön gesungene Hook von Yonii.
Der für mich vertrackteste Song der Platte. Es wirkt jedoch als verwebe Herre hier zwei der wichtigsten Themenkomplexe der Platte: Liebe & Lüge. Er redet von einer Liebesgeschichte, schließt aber genauso an „ Diebesgut " an. Wirklich greifbar wird das nie.
Die „ Fälscher"-Reprise kippt den vorangestellten Liebessong vollständig auf die selbtsreflexive Bahn von „ Diebesgut". Natürlich wird der berühmte Kunstfälscher herangezogen, Herre geht noch einen Schritt weiter und fälscht sich selbst, fälscht die eigene Biografie, das eigene Innenleben. Oder hat er diese Fälschung bereits soweit internalisiert, dass sie eins geworden sind?
Das große Finale. Und was für eins. Gänsehaut-pur. Herre schließt sein Album mit der großen Liebes-Ballade an seine Frau Joy Denalane. Der Song setzt nicht nur einen Schlusspunkt für „ Athen" und den alten Klassiker „ Mit Dir" zugleich, sondern schafft es erneut sich sowohl perfekt in das Album einzufügen, als auch für sich stehen zu können. „ Das Wenigste" erzählt wie die gesamte Platte die Geschichte einer Reise, diesmal von unzähligen Touren und dem komischen Dazwischen. Zwischen Shows und Bus, Bühne und Backstage. Gleichzeitig macht Herre seiner Frau das wohl schönste Kompliment. Ankommen tuen sie trotzdem nicht: „Immer noch streiten wir oft, nur versöhnen wir uns früher [...] Nur ist die Feindin der Liebe nicht die sich als Frieden verkleidende Gleichgültigkeit." Wunderschön.
Um es direkt vorweg zu nehmen, „ Athen" kriegt mich auch ganzer Linie und gefällt mir so gut, wie lange kein deutschsprachiges Album mehr. Lediglich festzustellen, die Platte sei im Groß der lediglich als Single-Compilation erschienenen Alben der jüngeren Vergangenheit endlich mal wieder ein richtiges Album, greift zu kurz. „ Athen" ließt sich als Plädoyer für fest ineinander verdichtete Konzept-Alben. Herre knüpft seinen Album-Teppich so wahnsinnig eng. Er macht nicht allzu viele Themen auf, verhandelt diese lieber immer wieder aus verschiedenen Sichtweisen und Epochen seiner selbst. Jeder Song setzt sich mit mindestens einem weiteren Song der Platte in Beziehung, greift Ideen auf und spielt sie hin und her. Klar zieht sich die Idee einer Reise durch die komplette Platte und dient als Leitfaden, dennoch finden sich noch weitere Nebenschauplätze wie Selbstreflexion, Liebe, Lügen, Familie, Architektur und Literatur. Auch im Sound verschmelzen Herre und seine Kahedi-Kollegen Simon Kawamura und Roberto Di Gioia viele Jahrzehnte und Genres. Von psychedelischem DDR-Rock über Dub und griechische Volksmusik bis zu klassischen 90er Rap-Beats und modernen Stimm-Shiftings. Was nach viel klingt funktioniert in der hörbar akribischen Detail-Arbeit von Kahedi wie aus einem Guss, auch weil sie die Übergänge zwischen den Songs behutsam glätten, anstatt abrupt zu stoppen. Der Spagat zwischen jugendlicher Dringlichkeit und der Ruhe des Grown-Man-Rap ist auf Deutsch noch niemandem so gut gelungen wie hier. Am Ende steht ein großartiges Album, bei dem es wirklich Spaß macht drüber nachzudenken und zu schreiben, Metaphern zu entschlüsseln und den einzelnen Leitfäden zu folgen. 10/10.