Liebesbriefe sind so alt wie die Menschheit. Seit Jahrtausenden fassen Menschen ihre Gefühle in Worte und bringen sie auf Papier. Die Sprache der Liebe folgt dabei eigenen Gesetzen. Schweizer Germanisten sammeln derzeit die schönsten Liebesbriefe - und machen sie zum Forschungsobjekt.
DÜSSELDORF. „Verehrtes Fräulein, in dem Falle, dass sich bei Ihnen die gleichen Gefühle bemerkbar machen ..." Wöge man den Wert eines Papiers an der Hoffnung, die ein Schreibender an seinen dünnen Zellulosekörper heftet, dann wären die Seiten, Karten und Zettelchen in Eva Wyss' wohltemperierten Archivschränken die wertvollste Sammlung, die man anlegen kann. Die Soziolinguistin führt in Zürich ein weltweit einmaliges Liebesbriefarchiv. Die ungelenke Note eines Postbeamten von 1910 ist eine von 6 306 Liebesbotschaften.
Da sind bittende und fordernde Stimmen, Briefe, die über einen Abschied schluchzen oder tuschelnd ein Stelldichein verabreden, sittsame Brautbriefe, anzügliche Fantasien und sogar die Zettelchen von Zwölfjährigen mit dem üblichen „Willst du mit mir gehen?" Jeder hat diesen gewissen Zauber: Küsse und Seufzer aus Tinte auf Papier. Man kann noch die Gefühle des Liebenden beim Schreiben spüren.
„Ursprünglich wollte ich nur wissen, wie die neuen Medien die Ausdrucksformen in den Liebesbriefen verändert haben", sagt Wyss. „Inzwischen interessiert mich das gesamte Genre, wie viel man in jedem einzelnen vom Schreiber selbst und von seiner Zeit wiederfindet."
Die Idee, dass Liebesbriefe ein eigenständiges literarisches Genre mit einer eigenen Sprache sein könnten, ist erst wenige Jahre alt. Wyss vertritt sie ebenso wie der Braunschweiger Germanist Jörg Paulus. Zusammen mit Renate Stauf (Braunschweig) und Annette Simonis (Gießen) hat er den literaturwissenschaftlichen Band „Der Liebesbrief" herausgegeben. „In unserem Buch wird anhand berühmter Liebeskorrespondenzen untersucht, wie die Sprache in Liebesbriefen arbeitet", sagt er. „Sie folgt nämlich oft ganz eigenen, ausgesprochen spannenden Gesetzen."
Diese Gesetze haben es meistens vor allem auf eines abgesehen: mit den Naturkonstanten zu brechen. Zu Papier gebrachte Liebe macht aus morgen jetzt, aus dem Gestern heute, dehnt den Augenblick zur Ewigkeit und überwindet unüberbrückbare Distanzen. Und all das, um dem verehrten Wesen so nah wie möglich zu sein, durch bloße Imagination. Der feste Glaube an den Glauben, der vielleicht nicht Berge versetzen, aber doch die ferne Geliebte herbeischreiben kann, das ist das Gesetz der Liebessprache. „Liebende erzählen sich wieder und wieder ihre gemeinsamen Erlebnisse", sagt Wyss. „So schaffen sie einen gemeinsamen Erlebnisraum, in dem sie sich sozusagen treffen können."