Nicole Macheroux-Denault

Freie Afrika Korrespondentin (TV, Print und Online)

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Merkels Willkommensruf hallt bis nach Westafrika

Armenviertel in Bamako, Mali "Nach der Rückkehr ist alles schlimmer" Foto: N. Macheroux-Denault


Rauch hängt über dem geschäftigen Busbahnhof von Bamako. Gut riechender Rauch, der von kundig auf offenem Feuer gegrillten Hühnerspießen stammt, die zwischen den Marktständen brutzeln. Hier wird alles verkauft: Flip-Flops, Sonnenbrillen, BHs. Der lebendige Trubel umrahmt die zur Abfahrt bereiten Auslandsbusse.

Wer das westafrikanische Mali verlässt, fährt hier los. Die, die ihre Taschen schon gepackt haben, stoppen noch einmal kurz vor einem der vielen kleinen Fernseher, aus denen mit unerträglicher Lautstärke die neuesten französischen TV-Nachrichten dröhnen.

"Crise migratoire" oder "milliers de migrants" - an diesem von Deutschland knapp 5000 Kilometer entfernten Ort hat die Flüchtlingskrise einen anderen, fast Hoffnung verheißenden Klang. Als Vizekanzler Sigmar Gabriel dann noch am Busbahnhof von Bamako auf der Mattscheibe erscheint, schaut wirklich jeder hin. Allemagne pourrait avoir à accueillir jusqu'à un million d'immigrants - eine Million Flüchtlinge seien dieses Jahr in Deutschland willkommen, sagt er da in sinngemäßer und galant klingender Übersetzung.


Ein Raunen geht durch die Menge, als sich die Zahl in den Köpfen der malischen Zuschauer und Zuhörer festsetzt. Es wird geflüstert: "Jetzt muss man losziehen."

Die Sogwirkung der deutschen Flüchtlingspolitik ist groß in Westafrika. In Transitländern wie Mali oder Niger ist die Zahl derer, die ausreisen wollen, rasant angestiegen. Genaue Zahlen fehlen. In Bamako wird an jeder Straßenecke über Einzelheiten der deutschen Flüchtlingssituation gesprochen. Ein sicherer Indikator für das neu erwachte Interesse an Deutschland.

"Mali ist nicht nur Ursprungsland für Migranten, es ist auch Transitland", sagt Bakary Doumbia, Chef der Mission der Internationalen Organisation für Migranten (IOM) in Bamako. "70 Prozent der Menschen, die Mali verlassen, sind auf der Durchreise. Sie stammen aus Gambia, dem Senegal und Guinea-Bissau." Doumbia beobachtet die Migrationsbewegungen in Westafrika seit Jahren. "Hier glauben immer noch viele, Europa sei ein Eldorado, wo Geld auf der Straße liegt und man es nur aufheben und nach Hause schicken muss."

Diese Mythen zu zerschlagen ist laut Doumbia zentraler Punkt für die Bewältigung der derzeitigen Abwanderung aus Afrika. "Wir sind mit einer Situation konfrontiert, welche die internationale Gemeinschaft zum Handeln zwingt", meint er. Doumbia kommt von der Elfenbeinküste. Er versteht die Migrationsdynamik nicht nur aus internationaler Sicht, sondern auch die spezifische Situation der Westafrikaner. "Die Leute sind entschlossen. Sie sind bereit, illegale Wege zu gehen. Wenn wir glauben, es reicht, diesen Menschen ein oder zwei Mal zu sagen 'Geht nicht! Es ist gefährlich!', dann täuschen wir uns."

Doumbia hebt seine Hände vom großen Schreibtisch, spreizt erst einen, dann zwei Finger gen Decke. "Das stoppt sie für einen, vielleicht zwei Monate. Wir müssen hier langfristigere Aufklärung betreiben, sonst ändert sich nichts." Doumbia gibt zu, es wird teuer, wenn die Europäer die Menschen in Westafrika halten und Menschenleben retten wollen. "Ein Menschenleben ist unbezahlbar. Wir brauchen bessere Strategien und einen längeren Atem als bisher. Es muss gute Politik gemacht werden."

Seifenblasen machen Deutschland zum beliebten Ziel

Während vor ein paar Monaten die meisten Migranten aus Westafrika noch die alte Kolonialmacht Frankreich als Ziel angaben, steht nun Deutschland mindestens ebenso hoch im Kurs. Und das hat viel mit den Fernsehbildern freundlicher Deutscher zu tun, die Neuankömmlinge mit Seifenblasen, Geschenken und Applaus willkommen geheißen haben. "Das Bild vergisst man nicht", sagt Salif*.

Zwar reden hier alle offen über die Flüchtlingskrise, Reisepläne aber sind Privatsache. "Wir sagen, wenn man über seine Träume spricht, erfüllen sie sich nicht." Salifs größter Traum ist es, zurück nach Europa zu gehen. Ja, zurück. Denn neben den vielen Migranten, die sich derzeit aus Westafrika via Mali, den Niger, Libyen und das Mittelmeer zum ersten Mal auf den Weg nach Europa machen, gibt es inzwischen eine zweite Welle. Sozusagen die Fortgeschrittenen, die Erprobten. Gemeint sind Westafrikaner, die zum zweiten Mal aufbrechen, weil sie beim ersten Anlauf scheiterten.

Der Mittvierziger Salif ist ein solcher "Rückkehrer". Sein Schicksal ist typisch: Asylantrag in Frankreich abgelehnt, kein Visum, untergetaucht, illegal gearbeitet, von der Polizei entdeckt, abgeschoben. "Jeden Tag kommen zwei Malier aus Europa zurück", sagt Ousmane Diarra von der Organisation für Abgeschobene (AME) in Bamako. Die Hilfsorganisation finanziert sich vollständig aus Mitteln der Frankfurter Hilfsorganisation Medico International und kümmert sich ausschließlich darum, gescheiterte Flüchtlinge wieder in die malische Gesellschaft zu integrieren. Und wohl auch, sie davon abzuhalten, nochmals loszuziehen. "Jeder hat das Recht, sich frei zu bewegen", sagt Diarra. "Aber heutzutage ist es unsere Pflicht, vor der illegalen Einreise nach Europa zu warnen."

Das ist eine schwierige Aufgabe, besonders bei Rückkehrern wie Salif. Man sagt hier: Nach der Rückkehr ist alles schlimmer als zuvor. Salif kann das bestätigen. "Ich habe hier nichts mehr. Es gibt keine Jobs, kein regelmäßiges Einkommen." Die Arbeitslosenrate in Mali ist hoch. In manchen Regionen beträgt sie mehr als 30 Prozent. Eins hat Salif noch nicht probiert: Er hat sich noch nicht an "die Mauer" gestellt.

Die "Mauer" ist eine hüfthohe säulenartige Abgrenzung einer kleinen Parkanlage, die an einer geschäftigen Hauptverkehrsstraße unweit seines kleinen Hauses liegt. An diesem Morgen stehen knapp 30 junge Männer dort und warten darauf, dass eines der vorbeifahrenden Autos anhält und der Fahrer ihnen einen Tagesjob anbietet. Derartige Job-Tankstellen gibt es in weiten Teilen des afrikanischen Kontinents. Es ist auch ein Ort des Austauschs unter Leidensgenossen. Oft ist man sich schnell einig: Europa ist die attraktivste, die einzige Alternative.

Salif reagiert aber noch auf andere Impulse. Als ein mit Sand beladener Lastwagen vorbeifährt, zeigt er aufgeregt darauf. "Da, das ist etwas, was Sinn hätte. Wenn ich einen Truck hätte, könnte ich mein eigenes Geschäft aufmachen. Das würde funktionieren." Salif hat einen Lastwagenführerschein und die Motivation, aber kein Startkapital. Keine Bank in Mali würde ihm Geld leihen, so mittellos wie er aus Europa zurückgekommen ist.

Ohne Reisepass problemlos bis zum Mittelmeer

"95 Prozent der Menschen verlassen Mali wegen der wirtschaftlichen und politischen Lage in unserem Land", sagt Ousmane Diarra. Der AME-Chef hat selbst lange in Frankreich gelebt und kennt die Gründe, die hinter der Entscheidung stehen, die Heimat zu verlassen: Arbeitslosigkeit, mangelnde Schulausbildung und der Terror der Separatisten im Norden Malis. Emigration habe in Westafrika Tradition.

Dabei werde oft vergessen, dass ähnlich dem europäischen Schengen-Abkommen die Bürger der westafrikanischen ECOWAS-Mitgliedsstaaten frei über Grenzen hinweg reisen und arbeiten dürfen. Die wenigsten Malier verfügen über Pässe, die sie ohnehin nicht brauchen. Auch auf ihrer langen Reise nach Europa nicht. Selbst Algerien gewährt Maliern gemäß einem Sonderabkommen bevorzugte Behandlung bei der Einreise. Und das ist schon der halbe Weg nach Europa.

So funktioniert das deutsche Asylverfahren

Doch selbst die beste Aufklärungskampagne über die geringen Chancen, dort legal einreisen zu können, werde den Menschenstrom nicht aufhalten, mahnt Bakary Doumbia. "Afrikas Regierungen helfen nicht, die Lage zu entspannen. Zu ihrer Verteidigung muss man allerdings sagen, dass ihnen die Mittel fehlen. Europa muss helfen, die wirtschaftliche Lage in den Herkunftsländern zu verbessern und Konflikte zu schlichten." Das ist sicherlich ein Streitpunkt.

Weniger Korruption und dafür mehr eigenverantwortliche Wirtschaftspolitik würden Afrika gut zu Gesicht stehen und Männern wie Salif vielleicht sogar zu einem Lastwagen verhelfen. Europa wird nicht daran vorbeikommen, den politischen Druck auf Regierungen in Ländern wie Mali zu erhöhen. In der Zwischenzeit empfiehlt sich eine neue Geberkultur. Zuhören und Bedürfnisse erkennen gehört sicherlich dazu. Wenn große Gruppen senegalesischer Fischer, die sich durch die Sahara schlagen, davon sprechen, dass sie nach Europa gehen, um das Geld für ein Boot zu verdienen, mit dem sie ihre Familie ernähren können, dann sollte es möglich sein, den Bootsbau in der Region zu fördern.

"In Frankreich habe ich als Fußball-Coach für einen Verein gearbeitet und genug Geld für meine Familie verdient", sagt Salif. "Hier verdiene ich noch nicht einmal genug, um die Schulausbildung meines Sohnes zu bezahlen." Der wurde gemeinsam mit Salif ausgewiesen und kann seinen Schulabschluss nun in Bamako nicht mehr machen. Salif steht unter enormem Druck, dies zu ändern.

"In den meisten Fällen nehmen die Migranten vor ihrer Abreise Kredite auf oder sammeln Geld in der Familie", erklärt Ousmane Diarra. Eine Abschiebung gilt als Versagen. Das Familienvermögen ist ausgegeben, die Familie leidet nun noch größere Not. Daher der Satz: Nach der Rückkehr ist alles schlimmer als zuvor.

"Diese Männer und Frauen wissen oft nicht, wie sie in das Familienleben zurückfinden sollen. Sie werden wie Aussätzige behandelt, regelrecht verdammt", sagt Diarra. Europa verliere in diesen Fällen gleich doppelt: Einerseits entstünden durch Aufnahmeverfahren, Bearbeitung und Rückführung der Migranten hohe Kosten. Andererseits stürzten in den Herkunftsländern immer mehr Familien in die finanzielle Not, was den Druck, es noch einmal in Europa zu probieren, verstärkt.

"Wir schauen viel Fernsehen. Wir wissen, was derzeit in Europa los ist", sagt Salif. "Grenzkontrollen und Zäune halten mich nicht auf. Ich gehe zurück, und ich weiß ja, Tausende andere sind auch unterwegs. Wir sind viele." Und dann zeigt er auf seine Turnschuhe. "Wenn's sein muss, laufe ich den ganzen Weg nach Europa."

Deutsche Visa kann man in Bamako kaufen

Salif könnte sich morgen ein Visum für Frankreich kaufen. Vier Millionen CFA-Francs (Franc de la Communauté Financière d'Afrique) koste es auf dem Schwarzmarkt, sagt er. Das sind knapp über 6000 Euro. Die hat er letztes Mal bezahlt und ist mit einem illegal erworbenen Visum nach Frankreich eingereist. "Ich kenne die richtigen Leute. Ein französisches Visum dauert zwei bis vier Wochen. Auch deutsche Visa kann man in Bamako kaufen. Die sind aber schwieriger zu bekommen und dauern länger."

Vor der französischen Botschaft kann man mit etwas Geduld die Schwarzmarkt-Visaverkäufer bei ihren Botengängen beobachten. Jeder in Bamako weiß, in der Botschaft gibt es korrupte Mitarbeiter, die sich ein ordentliches Zubrot verdienen. Bestellungen werden angeblich in einer Autowaschanlage eines gut verknüpften Händlers aufgegeben. Auf Anfragen reagiert der extrem freundlich. "Alles ist möglich", so der Standardspruch. Weitere Nachfragen über das "Wie" und "Wo" führen direkt zu Misstrauen und dem abrupten Abbruch der Verhandlungsbereitschaft. Nur so viel noch telefonisch: Man solle besser vorsichtig sein, nicht zu viel erzählen.

Die Grenzschließungen und -Kontrollen in Ungarn, Österreich und Deutschland werden in Mali niemanden aufhalten. Besonders die Rückkehrer wissen: Die Schlepper finden ihren Weg. Sie kennen die Preise und können sich vorbereiten. "Die meisten haben Verwandte in Europa zurückgelassen oder ausstehende Gehälter, die sie in der Hast der Abschiebung nicht einfordern konnten", sagt Doumbia.

"Mein Plan steht fest. Ich gehe entweder nach Frankreich oder nach Deutschland. Und da finde ich dann schon einen Weg und einen Job", sagt Salif. Seine Frau und Tochter sind noch in Frankreich. "Sie wurden nicht abgeschoben." Salif lässt offen, ob die beiden untergetaucht sind oder inzwischen über eine Aufenthaltserlaubnis verfügen. Für seine Planung ist das eigentlich auch egal. "Ich mache das so. Ich gehe. Eine andere Wahl habe ich nicht."

*Name von der Redaktion geändert


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