Nicole Macheroux-Denault

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Der abenteuerliche Rettungsschmuggel von Timbuktu

Bild: Adam Halup

Abdoulkadri Idrissa Arbouna Maiga öffnet die Tür zu einem kleinen Raum in einem unbedeutenden Gebäude an einem geheimen Ort in Bamako. Darin stehen 33 Kisten, unscheinbar, aus billigem Metall, wie man sie in Afrika an jeder Straßenecke kaufen kann. Grün und schwarz lackiert. "Da sind sie", sagt der hochgewachsene Mann. Sein Mitarbeiter, ein junger Malier arabischer Herkunft, öffnet langsam eines der Schlösser und hebt den quietschenden Deckel der Kiste hoch.

In Leder gebundene, antike Bücher liegen darin. Zerbrechliche Papierseiten, scheinbar achtlos aufeinandergestapelt. Maiga ist Direktor des weltberühmten Ahmed-Baba-Instituts in der malischen Wüstenstadt Timbuktu. Er ist vor den radikalen Islamisten in die Hauptstadt geflohen. Und in den Kisten befindet sich der größte Teil des bedeutendsten Kulturschatzes Westafrikas.

Am Samstag besuchten der französische Präsident François Hollande und Irina Bokowa, die Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation Unesco, Timbuktu. Französische Truppen hatten die Stadt vergangene Woche von den radikalen Islamisten zurückerobert.

25.000 Schriftstücke peu à peu gerettet

Maiga nimmt vorsichtig das oberste Manuskript in die Hand, öffnet es. "Dies ist eines der ältesten Gesetzesbücher aus Timbuktu. Es stammt aus dem 12. Jahrhundert", sagt er und klopft lächelnd mit dem Zeigefinger auf den Lederumschlag. Und dann wird er plötzlich wieder förmlich. "Ich bin froh, Ihnen bestätigen zu können, dass ein Großteil unserer jahrhundertealten Manuskripte aus Timbuktu nicht, wie berichtet, von Terroristen verbrannt wurden", sagt er sichtlich stolz.

"Wir haben sie in den vergangenen sechs Monaten peu à peu aus Timbuktu nach Bamako geschmuggelt - 25.000 Schriftstücke!" Ein groß angelegter Schmuggel historischer Schriften unter den Augen der auch auf diese Weise besiegten islamistischen Gotteskämpfer. Keiner hätte erwartet, dass eine kleine Gruppe entschlossener Historiker sich einen so waghalsigen Plan ausdenken, geschweige denn durchführen würde.

Im April vergangenen Jahres hatten Tuareg-Kämpfer gemeinsam mit Al-Qaida-Kriegern die malische Stadt Timbuktu besetzt. In dem historischen Handelszentrum in der Sahara befanden sich zu dem Zeitpunkt in zwei Gebäuden des Ahmed-Baba-Instituts etwa 45.000 handgeschriebene antike arabische Schriften aus den vergangenen neun Jahrhunderten. Sie gehören zum Weltkulturerbe der Unesco.

Es sind unermesslich wertvolle Dokumente, die die Geschichte der Araber in Westafrika dokumentieren. Längst nicht nur religiöse Schriften und Koran-Übersetzungen: Zu der Sammlung aus Timbuktu gehören auch handschriftliche Aufzeichnungen erster medizinischer Erkenntnisse, Notizen der frühen Mathematik, Astronomie, Musik und Poesie. Es ist die Dokumentation eines bedeutenden Teils der Menschheitsgeschichte.

"Wir wussten, sie würden die Manuskripte verbrennen"

Kurz bevor in der vergangenen Woche französische Flugzeuge und Bodentruppen Timbuktu zurückeroberten, hatten die Rebellen vor ihrer Flucht noch Feuer in der Bibliothek gelegt. Erste Berichte aus Timbuktu ließen Schlimmstes ahnen. Die Vernichtung der Sammlung. Aber offensichtlich hatte keiner mit Maiga und seinen Mitarbeitern gerechnet.

"Wir hatten nur die Wahl zwischen zwei Übeln und einem Quäntchen Hoffnung", sagt er. "Wir wussten, die Dschihadisten würden die Manuskripte irgendwann verbrennen. Sie haben ja mitbekommen, wie sehr sich die Welt um sie sorgt. Das hat sie geradezu angefeuert. Das war das eine Übel. Das andere war die Gefahr, beim Herausschmuggeln ertappt zu werden und die Manuskripte so zu verlieren."

Deshalb habe er sich auf das Quäntchen Hoffnung konzentriert. Die Möglichkeit, zumindest einen Teil der Manuskripte zu retten. Maiga lacht. "Ja, und es hat geklappt!"

Schmuggelaktion mit drei Phasen

Glücklicherweise wurden die ältesten Manuskripte der Sammlung in die sichere Hauptstadt Bamako gebracht. "Wir haben die Schmuggelaktion in drei Phasen organisiert", erzählt Maiga an seinem Schreibtisch in dem provisorischen Institutsbüro in Bamako. Er selbst flüchtete am 25. März vergangenen Jahres, kurz nach dem Militärputsch in Mali, nach Bamako.

Ein Großteil der Mitarbeiter des Ahmed-Baba-Instituts folgte im April. "Im Juni haben wir die erste Erkundungsmission gestartet", sagt Maiga. Ein Kollege reiste per Bus nach Timbuktu, um auszuloten, welche Kontrollen zu erwarten sind.

"Das lief sehr gut. Er hat zwei wichtige Festplatten mitgebracht, auf denen Kopien der schon katalogisierten Manuskripte gespeichert waren", sagt Maiga. "Das war eine große Errungenschaft für uns. Und wir haben gemerkt, wir können noch mehr planen."

Tuareg-Kämpfer stahlen einzelne Manuskripte

Als die Tuareg-Rebellen der MNLA von ihren vorherigen Mitstreitern, den islamistischen Extremisten, aus Timbuktu vertrieben wurden, wagten die Historiker einen weiteren Vorstoß. "Die Tuareg-Kämpfer waren unser Hauptproblem: Sie haben so viele Kulturgüter in Timbuktu zerstört und immer wieder einzelne Manuskripte gestohlen", sagt Direktor Maiga.

"Die Dschihadisten waren eigentlich gar nicht an den Manuskripten interessiert. Deshalb haben wir, nachdem die Tuareg vertrieben waren, eine zweite Aktion organisiert. Diesmal gelang es uns, die ersten zwei Kisten, gefüllt mit den ältesten Manuskripten, in einem Auto nach Bamako zu bringen." Es war ein Riesenerfolg. Doch es kam noch besser.

Maiga bekam wenige Tage später von einem Kollegen einen Tipp, wie weitere Kisten mit Manuskripten nach Bamako geschmuggelt werden könnten. Zu dem Zeitpunkt waren die Historiker Malis wie in einem Geheimbund verschworen, ihr Ziel, die wertvollen Manuskripte zu retten, zur Überlebensaufgabe geworden.

"Wir hatten Finanzprobleme. Wir kannten Leute, die bereit waren, unsere Schriften mitzunehmen, aber sie verlangten zwischen 50.000 und 100.000 Francs pro Kiste. Das ist viel Geld hier." Umgerechnet sind es gerade mal 75 bis 150 Euro pro Kiste.

An Regierungsverantwortliche konnte sich Maiga nicht wenden. Nach dem Militärputsch war und ist Malis Regierung ein undefinierbares Gebilde ohne verlässliche Zuständigkeiten. Dort Hilfe zu suchen hätte die ganze Aktion gefährden können. "Mein Kollege sagte, sein Institut sei bereit, die Kosten für den Transport mit einem ihm als verlässlich bekannten Händler zu bezahlen."

"Die erste Fuhre war die schlimmste"

Und damit begann die wirklich erfolgreiche Phase des Schatzschmuggels. Maiga schickte zwei couragierte, unauffällige Mitarbeiter nach Timbuktu. "Jede Nacht sind sie in das alte Gebäude des Ahmed-Baba-Instituts gegangen. Dort befanden sich die wertvollsten Schriften", erklärt er.

"Unser neues Gebäude hatten die Dschihadisten besetzt. Das alte jedoch war unbewacht. Sie hatten offenbar keine Ahnung, dass sich darin noch wertvolle Dokumente befanden." Jede Nacht füllten die beiden Mitarbeiter im Licht ihrer Taschenlampen zwei oder drei Kisten mit Manuskripten und brachten sie heimlich in das Haus des Händlers.

Der verstaute sie - manchmal eine, manchmal zwei Kisten - in seinem alten Lastwagen. So wurde Westafrikas wertvollster Kulturschatz unter Säcken mit Reis und Makkaroni in Sicherheit geschmuggelt. "Die erste Fuhre war die Schlimmste", erinnert sich der Institutsdirektor und schüttelt noch immer ungläubig den Kopf.

"Ich hatte mir ausgerechnet, wann meine Kollegen ungefähr hier ankommen müssten. Es war verabredet, dass sie sich telefonisch melden." 24 Stunden wartete Maiga auf den überfälligen Anruf. "Ich war mir zu dem Zeitpunkt sicher, dass unsere Mission gescheitert und den Kollegen etwas zugestoßen war", sagt er. Doch dann kam der Anruf - die Handybatterie der Reisenden war leer gewesen.

Mehr als die Hälfte der Dokumente gerettet

Wie sie berichteten, durchsuchten Dschihadisten an den Kontrollpunkten den Lastwagen des Händlers immer wieder. Mehrfach zwangen sie ihn, die Kisten zu öffnen. "Bei der ersten Lieferung wollten die Terroristen unserem Partner die Manuskripte abnehmen. Aber er hat sie bequatscht und nach einem kleinen Austausch auch überzeugt"; erzählt Maiga grinsend. Man kann sich denken, was das bedeutet.

Nach einer Weile hatte sich die "Schmugglerbande" an die Regeln und Gefahren gewöhnt. 31 Kisten wurden so aus Timbuktu nach Bamako gebracht und mehr als die Hälfte der historischen Dokumente gerettet. Als nach der Befreiung Timbuktus die Fernsehbilder von verbrannten Manuskripten im Ahmed-Baba-Institut um die Welt gingen, war der Schrecken groß.

Aus dem provisorischen Büro von Institutsdirektor Maiga in Bamako jedoch hörte man keinen großen Aufschrei. Bedauern ja, aber auch leise Töne, in denen erstmals öffentlich anklang, dass der Schaden geringer sei als erwartet. Und die Rebellen dümmer als gedacht. Aber Maigas größte Sorge gilt nun der Zukunft.

"Nein, momentan denken wir nicht daran, die Schriften wieder zurück nach Timbuktu zu bringen", sagt er sehr bestimmt. Die Unesco hat angekündigt, Mali beim Wiederaufbau Timbuktus zu helfen. "Aber das dauert alles viel zu lange. Die Unesco ist ein zu großer Apparat, um uns jetzt hier mit den wirklich wichtigen Dingen zu helfen."

"Manuskripte sind wie unser eigenes Herz"

Derzeit lagern die in arabischer Handschrift verfassten Texte weiterhin in den Metallkisten an einem geheimen Ort. Der Raum ist klein und nicht klimatisiert - kein guter Aufbewahrungsort für jahrhundertealtes Papier. "Wir brauchen schnell Unterstützung von anderen Instituten, egal aus welchem Land", sagt Maiga. "Wenn wir diese Manuskripte nicht bald fachgerecht lagern, werden sie Schaden tragen."

Sie hätten getan, was sie tun konnten. "Mir haben in den vergangenen Tagen viele gesagt, wir seien Helden. Aber für uns sind diese Manuskripte wie unser eigenes Herz. Sie sind Monumente afrikanischer Geschichte." Dann fügt der Historiker noch hinzu: "Wenn jeder sagt, dass wir gut gearbeitet haben, dann muss das wohl so sein, und ja, dann darf ich auch stolz darauf sein."

Foto: Nicole Macheroux-Denault

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