Die Steintreppe mit ihren 365 Stufen endet nun an einer Barrikade aus Brettern und Eisenstangen.
Normalerweise strömen täglich hunderte Pilger auf den Hügel von Swayambhu, der über Nepals Hauptstadt Kathmandu thront. Sie kommen, um den Stupa zu umrunden, eines der ältesten buddhistischen Heiligtümer der Welt. Sein bauchiger weißer Sockel trägt ein Mittelstück, das auf allen vier Seiten mit Augen bemalt ist, die Augen des Buddha. Darüber befindet sich eine vergoldete Spitze. Der Stupa symbolisiert den Buddha und seinen Weg zur Erleuchtung. Er gehört zu den Wahrzeichen Kathmandus mit seinen insgesamt sieben Weltkulturerbestätten.
Doch jetzt ist der Hügel abgesperrt. Sechs Wochen nach dem großen Erdbeben, das rund 8800 Menschen tötete und hunderte Bergdörfer zerstörte, liegen auch Nepals außergewöhnliche Kulturstätten in Trümmern.
Der große Stupa selbst steht zwar noch, aber das Fundament hat einen Riss abbekommen. Statt von Tempeln, Souvenirläden und weiteren kleineren Stupas ist das Heiligtum von Ruinen umgeben. Staub aus den Trümmerhaufen legt sich auf die Haut der Besucher. Er vermischt sich mit dem Schweiß eines mühsamen Aufstiegs in der Hitze kurz vor dem Monsun.
Amrit Man Buddhacharya läuft in Sandalen zwischen den Trümmern umher. Der 27-Jährige wirkt müde, seit dem Erdbeben schläft er im Freien. Sein Laden, in dem er einst Souvenirs verkaufte, ist nur noch eine Ruine; die lehmfarbene Außenmauer ragt wie ein verfaulter Zahn in den Himmel, Wände und Decke sind kollabiert. „Wie durch ein Wunder wurde niemand von uns getötet", sagt Buddhacharya. Er glaubt, dass die Götter seine Familie beschützen.
Die Buddhacharyas, ein Clan von rund 200 Mitgliedern, sind die Hüter dieser heiligen Stätte. „Seit 1600 Jahren kümmern wir uns um den Stupa", sagt Amrit Man Buddhacharya. Als Laienpriester führen die Mitglieder seines Clans die buddhistischen Rituale durch. Sie klingeln die Glocke morgens bei Sonnenaufgang, bringen den Götterstatuen Gaben dar und versammeln sich bei Sonnenuntergang zum Gebet vor dem goldenen Tempel.
Sie glauben, das Erdbeben sei eine Warnung der Götter gewesen. „Mein Vater denkt, dass sie die Tempel verlassen und alles mit sich genommen haben, weil die Menschen so viel Schlechtes tun", sagt Buddhacharya. „Deshalb sind bei dem Erdbeben nur die Tempel zerstört worden, aber kaum Wohnhäuser."
Tatsächlich hat das Erdbeben zumindest viele der neueren Wohngebäude verschont. Vom Swayambhuhügel aus öffnet sich der Blick auf das ausgedehnte, dicht besiedelte Kathmandutal. Es wirkt idyllisch, fast so, als sei nichts geschehen. Grün, pink und gelb gestrichene Häuser schmiegen sich an bewaldete Berghänge, die bis zu einer Höhe von 2500 Meter aufragen. Zwischendrin gibt es terrassierte Reis- und Maisfelder. Bei guter Sicht sind die hundert Kilometer entfernten, schneebedeckten Gipfel zu sehen.
1,7 Millionen Menschen leben in Kathmandu, die Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen 20 Jahren fast verdreifacht. Staub ist in den engen Straßen der Stadt allgegenwärtig, hinzu kommen die Abgase und das Gehupe von Autos und Motorrädern.
Im Kathmandutal befinden sich außerdem die zwei anderen ehemaligen Königsstädte. Kathmandu im Norden und seine Schwesterstadt Patan im Süden gehen heute ineinander über, getrennt nur durch einen Fluss. Bhaktapur, die dritte Königsstadt, liegt etwa zehn Kilometer weiter östlich.
Vom frühen 13. Jahrhundert bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren alle drei eigenständige Stadtstaaten. Vom Glanz dieser Epoche sind nur die Tempel und Paläste übrig; Nepal gehört heute zu den 20 ärmsten Ländern der Welt. Die prächtigen Tempel mit ihren dreistöckigen Dächern stammen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, einer kulturellen Blütezeit. Im 19. Jahrhundert kamen weiß getünchte Prachtbauten im britischen Kolonialstil hinzu, obwohl Nepal nie kolonialisiert wurde. Die Einflüsse reichten aus dem Nachbarland Indien hierher.
Das Erdbeben hat große Teile dieser historischen Plätze zerstört, ebenso wie die Wohnhäuser der angrenzenden Altstadtviertel, in denen viele Gebäude schon nach dem letzten großen Erdbeben 1934 wieder aufgebaut werden mussten. Heute machen solche alten Viertel nicht einmal ein Fünftel der gesamten Fläche Kathmandus aus. Der größte Teil der Stadt besteht aus neueren Gebäuden, teils einfache Betonquader, teils fünf- bis sechsstöckig mit Dachterrassen und Balkonen. Da die Wirtschaft sich in den letzten Jahren gut entwickelt hat, wurde immer höher und aufwendiger gebaut. Die meisten der neuen Gebäude haben bei dem Beben nicht viel abbekommen.
42 000 Menschen sind in Kathamandu wegen des Bebens obdachlos geworden. Buddhacharyas Familie schläft nun unter einer großen Zeltplane auf einem engen Platz zwischen den Tempeln. Die Buddhacharyas wollen Swayambhu auf keinen Fall verlassen. „Ohne den Stupa hört unsere Familie auf zu existieren, und der Stupa kann nicht existieren ohne uns", sagt Amrit Man Buddhacharya. Um auf andere Gedanken zu kommen, hilft er ehrenamtlich einem Team von Archäologen, die die Schäden dokumentieren.
Deren Leiter ist Debendra Battharai vom nepalesischen Amt für Archäologie. Battharai, Anfang 40, hat die Ärmel seines Hemds hochgekrempelt. Er trägt einen gelben Bauhelm und einen Mundschutz gegen den Staub.