Seit einem Jahr ist Cannabis in Deutschland auf Rezept erhältlich. Unter bestimmten Voraussetzungen übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Das freut Patienten und Unternehmer, die damit gutes Geld verdienen. Doch es hakt an mehreren Stellen.
"Wir haben unseren Kampf gewonnen", sagt Lars Scheimann, zündet sich einen Joint an und lehnt sich auf seinem Bürostuhl zurück. Drei Gramm Gras raucht Scheimann seit knapp zwanzig Jahren täglich und fühlt sich gut dabei. Mit sieben hatten Ärzte bei ihm das Tourette-Syndrom diagnostiziert. Unkontrolliertes Schmatzen, Spucken, zuckende Schultern - lange war Scheimann stark verhaltensauffällig. "Das ging so weit, dass ich meinen Kopf gegen die Wand gerammt habe", erzählt der 48-Jährige. Starke Medikamente waren lange sein stetiger Begleiter. Ein Joint auf einer Party brachte dann die Wende. Er habe schon nach zehn Minuten gemerkt, dass die Ticks nachliessen, sagt er.
Nachfrage deutlich über den ErwartungenRund 15 Jahre lang hat Scheimann nun für das Recht auf seine "Medizin" gekämpft. Er hat demonstriert, Petitionen gestartet und zählt mittlerweile zu den bekanntesten Cannabisaktivisten in Deutschland. Knapp 2000 Euro kostet seine Dosis im Monat. Geld, das er lange selbst bezahlen musste, auch nachdem ihm vor wenigen Jahren eine Ausnahmegenehmigung ausgestellt worden war. Damit gehörte er zu den knapp tausend Personen in Deutschland, die Cannabis in der Apotheke beziehen durften, aber selbst bezahlen mussten.
Das hat sich vor einem Jahr geändert. Im Januar 2017 stimmte der Deutsche Bundestag fraktionsübergreifend für die Anerkennung von Cannabis als Arznei. Kann der Patient nachweisen, dass ihm konventionelle Medikamente nicht helfen, kommt die Krankenkasse für die Kosten auf. Seit dem 10. März ist das Gesetz in Kraft. "Vorher habe ich nur für meine Medizin gearbeitet. Jetzt lebe ich endlich nicht mehr am Existenzminimum", erzählt Scheimann, der einen Naturhanfladen in der Duisburger Innenstadt betreibt.
So wie Scheimann bekommen mittlerweile mehrere tausend Menschen in Deutschland Cannabisprodukte von den Krankenkassen bezahlt. Eine Umfrage der Zeitung "Rheinische Post" bei den grössten drei gesetzlichen Krankenkassen ergab, dass zehn Monate nach Einführung des Gesetzes rund 13 000 Anträge auf Kostenerstattung eingegangen waren; hinzu kommen Privatpatienten. Auch wenn objektive Gesamtzahlen schwer zu ermitteln sind, liegt die Menge der Patienten weit über den Erwartungen der Bundesregierung. Diese war bei Gesetzeseinführung von knapp 700 Patienten jährlich ausgegangen.
Die Akzeptanz steigtAuch Judith Schwikart ist Cannabispatientin. Mit 23 wurde bei ihr eine Depression festgestellt. Einige Jahre später folgte dann die Diagnose multiple Sklerose. "Als die Ärztin mir den Ratschlag gab, einen Rentenantrag zu stellen, habe ich gesagt: ‹Was, ich bin doch erst 30.›" Seitdem ist sie zu Hause, ihr Mann ist Pfarrer, die beiden Kinder sind mittlerweile schon aus dem Haus. "Mir geht es immer noch vergleichsweise gut, ich kann spazieren gehen, das gibt mir die Kraft, die Krankheit durchzustehen", sagt Schwikart und lächelt. Über Bekannte ist sie zum ersten Mal in Kontakt mit Cannabis gekommen. "Mehrmals täglich ein paar Züge von einer kleinen Gras-Zigarette, und es ging fröhlich durch den Alltag, ohne Depressionen und Schmerzen", erzählt die 55-Jährige.
Mittlerweile raucht sie jedoch nicht mehr, sondern nimmt nur nachts ein Cannabisöl, wenn sie "der Teufel holt", wie sie ihre anfallartigen Gliederschmerzen nennt. Tagsüber verzichtet sie auf Cannabis. Ihr Zustand habe sie nach einer Weile zu sehr verwirrt. "Ich war durcheinander - und ich dachte natürlich, das könnte etwas mit dem Cannabis zu tun haben." Auf wirklich verlässliche Studien konnte sie nicht zurückgreifen, denn davon gibt es nicht viele. Viele Ärzte mahnen schon länger an, dass sich die Forschung stärker mit den langfristigen Wirkungen von Cannabis auseinandersetzen müsse.
Für Judith Schwikart war es ein langer Weg zur Cannabispatientin. Mehrere Anträge musste sie stellen, mit Ärzten und Krankenkassen diskutieren. "Diese ständigen Auseinandersetzungen haben bei mir das Gefühl hinterlassen, dass ich etwas falsch mache. Dass es nicht richtig ist mit dem Cannabis." In der Apotheke sei sie belächelt worden. Auch wenn ein Fläschchen ihres Öls knapp 300 Euro kostet - für Schwikart ging es bei der Gesetzesneuerung nicht ums Geld: "Das ist eine emotionale Sache: Es ist nun in Ordnung, Cannabispräparate in der Apotheke zu kaufen - es ist nun ein Medikament."
Branche in GoldgräberstimmungDoch auch ein Jahr nach Gesetzeseinführung klagen Patienten über mangelndes Wissen bei Apothekern und Ärzten. "Teilweise wissen die Patienten mehr als der Doktor", kommentiert Niklas Kouparanis. Der 28-Jährige studierte Betriebswirt und leitet bei Cannamedical in Köln den Verkauf von medizinischem Cannabis. Das Unternehmen ist gerade zum dritten Mal in den letzten anderthalb Jahren umgezogen. Vom Konferenzraum im 16. Stock des höchsten Geschäftsgebäudes in Köln sieht man auf die gesamte Stadt. "Der Markt entwickelt sich extrem schnell, und wir sind froh, dabei zu sein", sagt Kouparanis mit ruhiger Stimme. Über Umsatz und Gewinn schweigt er. Ein Jahr nach Öffnung des Markts für medizinisches Cannabis teilen sich allerdings in Deutschland nur eine Handvoll Unternehmen das Geschäft untereinander auf. Alle beziehen ihre Blüten aus den Niederlanden und zunehmend auch aus Kanada.
Cannamedical beliefert und berät 1500 Apotheken in Deutschland mit medizinischen Blüten. Doch weil die Nachfrage steige, habe es immer wieder Engpässe gegeben, berichtet Kouparanis. Bei Cannamedical orientiert man sich an der Marktentwicklung in einigen Gliedstaaten der USA sowie in Kanada. Dort ist medizinisches Cannabis schon seit einigen Jahren legal erhältlich. Zwischen einem und zwei Prozent der Bevölkerung griffen auf Medizinal-Gras zurück. "Wenn man das auf Deutschland überträgt, reden wir von einer Patientenzahl von zwischen 800 000 und 1,6 Millionen", schwärmt Kouparanis.
Wegen dieser Wachstumsphantasien versuchen immer mehr kanadische Unternehmen, auf dem deutschen Markt Fuss zu fassen. Die beiden grössten börsennotierten kanadischen Cannabisunternehmen besitzen Tochterfirmen in Deutschland. Auch Cannamedical hatte bereits Übernahmeofferten. Man habe sich aber bewusst dagegen entschieden und wolle unabhängig bleiben, sagt Kouparanis. Eine Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Cannamedical auf finanzkräftige Investoren zählen kann. 20 Prozent der Firma gehören einem Unternehmer, der mit Sexportalen viel Geld verdient hat. Der junge Cannabismarkt ist auch ein Sammelbecken für Glücksritter.
Entkriminalisierung in Sicht?In Deutschland soll aber auch bald Cannabis angebaut werden. Rund 6,6 Tonnen Blüten sind staatlich ausgeschrieben. Eigentlich sollte Ende des vergangenen Jahres bereits feststehen, welche Unternehmen in Deutschland anbauen dürfen. Doch mehrere Firmen haben gegen die Ausschreibung geklagt. Sie sehen deutsche Unternehmen benachteiligt, weil Erfahrung im Gras-Anbau eine Bedingung ist. Sollten die Kläger recht bekommen, könnte die Ausschreibung kippen. Bei Cannamedical rechnet man derzeit mit einem Konsum von 22 Tonnen im Jahr in Deutschland. Niklas Kouparanis hält deshalb die ausgeschriebene Menge in jedem Fall für viel zu gering. "Wir werden langfristig weiter auf Importe angewiesen sein."
Nicht nur beim Angebot der Blüten ist vieles im Fluss - auch in der Politik: Dort werden die Stimmen lauter, die eine Legalisierung des Freizeitkonsums erproben wollen. Anfang Februar befasste sich der Bundestag mit dieser Frage. Noch ist nichts entschieden, aber schon bald könnte es erste Modellprojekte geben. Der Bundesverband deutscher Kriminalbeamter hat kürzlich eine Entkriminalisierung des Konsums gefordert. Deshalb schaut die deutsche Politik wohl auch besonders aufmerksam nach Kanada. Dort soll in diesem Sommer der Freizeitkonsum legalisiert werden.