Ein fröhliches Pfeifen weist uns den Weg, als wir um den
Löwenpalais in Berlin Grunewald schleichen. Nomad winkt zu uns herüber.
Aha, da ist er also – der Künstler samt Hintereingang zu seinem neuen
Zuhause. Nein, den ganzen Prachtbau bewohne er nicht, da müsse er uns
enttäuschen, erzählt der 40-Jährige bei der Begrüßung gut gelaunt und
mit festem Händedruck, lediglich eine Wohnung im Seitenflügel der
historischen Künstlervilla. Einige Treppenstufen später betreten wir die
Wohnung eines der weltweit populärsten Street-Art-Künstler. Sie ist –
klein. Ein Schlauch von Küche, ein winziger Flur, 1,5 Zimmer plus Bad
und Abstellkammer – unter einer „Villa“ hatten wir uns etwas anderes
vorgestellt. Nomad offensichtlich nicht, er fühlt sich hier pudelwohl.
Die ruhigste Wohnung sei das, die er je in Berlin gehabt habe, der ideale Ort zum runterkommen. Ob wir auch einen Tee wollen?, fragt Nomad, und schlurft mit seinen orientalischen Hausschlappen in Richtung Küche. Wir schauen uns derweil um. Vor gerade einmal anderthalb Monaten ist Nomad hier eingezogen, hat er uns beim Hereinkommen erzählt. Trotzdem hängen die Wände bereits voll, mit diversen Exponaten aus der Sammlung des umtriebigen Künstlers. Als Atelier dient der kleine Raum gleich neben dem Schlafzimmer. Mehr Platz braucht Nomad nicht zum Malen? Iwo, sagt Nomad, das reiche völlig. Und wenn er doch einmal in die Breite gehen muss, könne er jederzeit den großen Saal im Erdgeschoss der Villa nutzen. Nun jedoch begeben wir uns erst einmal in die Küche, an den kleinen Tisch am Fenster, den eine aktuelle Ausgabe des KICKER und ein Laptop bedecken. „Meine Verbindung zur Außenwelt“, grinst Nomad.
Du bist kürzlich umgezogen - raus aus dem hektischen Berlin Mitte, rein in den verschlafenen Grunewald. Was hat dir an Mitte nicht mehr gefallen?
Was mich an Berlin Mitte grundsätzlich nervt, ist die soziale Vernetzung. Da kann man nicht einkaufen gehen, ohne dass man fünf Leute trifft, die man lose kennt und die einen abends wieder auf irgendeinen Geburtstag oder irgendeine Vernissage einladen Es gibt zuviel Ablenkung, zuviel Show die ganze Zeit, und das hat mich irgendwann einfach gelangweilt. Außerdem hatte ich keine Lust mehr darauf, dass die Leute ständig in meinem Atelier vorbeikommen und mich zulabern.
Hier habe ich Einkehr, ich kann mich auf die Sachen zu konzentrieren, auf die ich mich wirklich konzentrieren möchte. Ich mache als Künstler viele Sachen, oft zeitgleich in mehreren Bereichen. Daher muss ich sehr drauf achten, fokussiert zu bleiben, und das fällt mir wesentlich leichter mit Abstand zu den Dingen. Außerdem habe ich Natur um mich herum! Ich kann aus meinem Fenster die Bäume sehen, frische Luft atmen, die Vögel zwitschern hören. Das gibt mir mehr Kraft und Inspiration, als mich in irgendwelche Bars zu setzen und mich wegzusaufen unter der Woche.
Definitiv. Ich habe die letzten 17 Jahre in Kreuzberg und Mitte gewohnt, und so ziemlich alles mitgenommen, was gut war. In der Post-Wende-Zeit gab es eine Montagsbar, eine Dienstagsbar, eine Mittwochsbar, und so weiter. Die Bars hatten keine Namen, wir haben einfach irgendwelche Häuser besetzt und da Läden eröffnet. Damals sind die Leute noch mit einem Sendungsbewusstsein an die Sachen rangegangen und haben mit wenig Kapital wirklich gute Läden gemacht. Heute gehe ich mit den meisten Sachen in der Berlin-Mitte-Szene nicht mehr konform. Das Berliner Nachtleben hat enorm nachgelassen.
Nein, überhaupt nicht. Ich bin jemand, der in allen möglichen Bereichen zuhause ist. Ich kann nach wie vor mit den krassesten Wedding-Bangern abhängen und mit denen reden, und ich kann mit irgendwelchen Hollywood-Promis beim Abendessen sitzen und ihre Sprache sprechen. Jederzeit alles machen können, sich in sämtlichen Welten bewegen, „Access All Areas" als Lebenseinstellung - das ist für mich Freiheit, darum geht's mir.
Auf der Suche nach Freiheit eckst du früher oder später in allen etablierten Szenen an. Wo du gerade die Graffiti-Szene erwähntest: auch dort bin ich auf Widerstände gestoßen, gerade weil sich dort Gewalt und ein rougherer Umgang etabliert hatten. Denn ich bin grundsätzlich gegen Gewalt, wenn es sich vermeiden lässt. Es ist nur das allerletzte Mittel, um sich selber zu verteidigen. Da folge ich den Prinzipen von Kung-Fu, der Gewalt immer aus dem Weg zu gehen beziehungsweise sie umzuleiten und zu kompensieren.
Mir geht es um spirituelles Wachstum, bei allem was ich tue. Und spirituelles Wachstum ist ohne Freiheit nicht möglich. Geistiges Wachstum und Energieerhaltung sind mein Antrieb. Ein besserer Mensch zu werden und anderen zu helfen, bessere Menschen zu werden. Das kann man auf unterschiedliche Weisen erreichen. Ein wichtiger Weg für mich ist der Humor, über mich selber zu lachen und andere dazu zu bringen, dass sie über sich selber lachen können, alles nicht so ernst nehmen und spielerisch mit Dingen umzugehen.
Es liegt wohl tatsächlich darin begründet, dass ich schon als Kind immer weglaufen wollte. Stattdessen lief meine Schwester von zuhause weg, als ich zehn war. Damit lag die Verantwortung bei mir, meine Ausbildung zu beenden und die Erwartungen meiner Eltern zu erfüllen, und ich wusste auch, dass ich das aus freien Stücken will, weil ich Respekt vor meinen Eltern habe und davor, dass sie mich großgezogen haben. Auch, wenn es nicht immer rosig war bei uns zuhause, kann ich sagen, dass mein Vater für mich immer noch mein Held ist, meine Mutter lebt leider nicht mehr. Mein Dad ist eine sehr starke Person, und wir haben uns oft gezofft. Aber er hat mich auch zu einer sehr starken Person erzogen, und davor hatte ich einfach Respekt. Also hab ich mein Abi gemacht. Aber es war auch klar, dass ich danach frei bin und abhaue. Und das habe ich dann auch gemacht: ich bin abgehauen und nie wieder zurückgekehrt.
Ich bin zunächst einmal vier Jahre auf den Straßen unterwegs gewesen und hab mir die Welt angeschaut.
Ich war ein besserer Penner. Ich bin komplett ohne Kohle unterwegs gewesen. Dabei hab ich zwar nicht auf der Straße Leute angebettelt, sondern mir immer wieder Arbeit gesucht. Aber ich hab auch viel unter Brücken geschlafen und ich irgendwelchen abgewrackten Autos, stets mit Bowiemesser im Schlafsack. Das hab ich schon durchgezogen, den Lifestyle (lacht).
Das war wohl in San Francisco, im Sommer 1990, als ich so 19, 20 war, gar keine Kohle mehr hatte und einfach was zum Fressen brauchte. Ich ging Wachsmalkreiden klauen, machte Straßenmalerei auf dem Boden, und stellte Schälchen für Kleingeld auf. Das war definitiv der erste Moment, in dem ich Geld für das Malen eines Bildes bekommen habe. Das waren harte Zeiten, da hab ich mit den Junkies im Park gepennt und mich jeden Morgen bei Mc Donald's gewaschen. Dort war es am einfachsten, weil die keine Security hatten.
Von wegen. Die Straßenmalerei hat kaum Geld gebracht, daher bin ich jeden Tag klauen gegangen bei Ralphs auf dem Hollywood Boulevard. Das war der Supermarkt, in dem alle Penner klauen gegangen sind, weil dort die ganzen Movie-Stars eingekauft haben. Die waren auch alle Kleptomanen, so dass sie dort irgendwann einfach die Securities abgeschafft haben, weil das ständig in irgendwelchen Skandalen und Prozessen geendet ist. Deshalb konnte man da easy klauen. Schön eine Alibi-Milch gekauft, den Rest in die Jacke gesteckt.
(Lacht) Das war dann die Rückkehr nach L.A., das ist echt eine lustige Story. Ich hab Hollywood von ganz unten bis ganz oben kennengelernt, oder besser: kennenlernen dürfen. Es ist schon speziell, wenn man zu seinen alten Schauplätzen zurückkehrt, nur dass man diesmal eben in der Limo vorbeifährt statt mit dem Skateboard.
Etwa zweieinhalb Monate. In der Zeit bin ich an den Rand des Wahnsinns gekommen. Ich bin in so einen Modus reingekommen, in dem ich wochenlang nicht mehr geschlafen hab, weil ich die ganze Zeit so alert war. Das war ein wahnsinnig heißer Sommer, und ich kam mit dem Klima nicht klar, ich kam nicht klar damit, bei dem winzigsten Geräusch aufzuwachen mit der Angst ‚Will dich da jemand abzocken?' Damals hab ich mir einige Skills angeeignet, die sich als hilfreich erwiesen, als ich später in Europa unterwegs war. Ich konnte mich in eine Art von Schlaf, einen Ruhezustand, versetzen, und trotzdem wach sein. Eine Art Ninja-Samurai-mäßiger Schlaf - du relaxt, aber sofort, wenn du hörst, dass sich jemand nähert, bist du da. Insgesamt war die Phase aber ein hartes Programm für einen 19-, 20-Jährigen.
Ich wurde in Baywood Park bei einer kleinen Skateboard-Firma angeheuert, Small Room. Ich hatte zuvor eine Weile mit denen rumgehangen und geskatet, dann wurde zufällig ein Job frei. Die haben mich von der Straße weggeholt. Da habe ich dann Skateboard-Designs gemacht, Boards besiebdruckt, T-Shirts bedruckt. Das war die erste Etappe in meinem Leben, wo ich dachte: jetzt habe ich es geschafft, jetzt hab ich meinen Lebenstraum verwirklicht, und das ohne Hilfe von außen.
Ich bin jemand, der seine Arbeit sehr liebt. Dadurch arbeite ich sehr viel, ohne dass ich es merke. Weil ich so breit aufgestellt bin, hab ich ständig den Ansporn, etwas zu tun. Manchmal sumpft es natürlich auch ab oder artet in Konflikte aus, aber im Großen und Ganzen bin ich fähig, gern 18 Stunden am Tag zu arbeiten.
Des Öfteren. Ich versuche aber eigentlich, vor 4:00 Uhr einigermaßen die Kurve zu bekommen. Was ich allerdings nicht schaffe, ist länger als bis um 11:00 Uhr zu schlafen. Selbst, wenn ich bis in die Puppen aufgelegt habe. Ich kann einfach nicht den Tag verschlafen. Da geht's mir schlecht, da bekomme ich Depressionen. Ich brauche Licht, und ich muss aufstehen, um meinen Kreislauf in Schwung zu bringen.
Es gibt tatsächlich Rituale: ich praktiziere Magie, zweimal täglich. Da mache ich Meditationen und autogenes Training. Das ist ein Regulativ in meinem Leben, etwas, das nicht an eine Uhrzeit gebunden ist, aber einmal tagsüber und einmal vor dem Schlafengehen stattfindet. Damit kann ich mich sehr gut runterfahren und auf dem Weg bleiben.
Ja, das ist Magie. Ich studiere ein magisches System, das hat im weitesten Sinne mit Hermetik zu tun. Ich habe etliche Bücher dazu gelesen, und die Praktiken begleiten mich, seit ich 16 bin. Die Magie hat sich fest in mein Leben integriert, oder umgekehrt. Das hat mit der Welt an sich zu tun, damit, wie die Welt sich verändert, und ist für mich ein wesentlich effektiveres Mittel als Religion.
Ich kann mit klassischer Religion nicht viel anfangen. Ich kann sie zwar durchdringen, ich kann verstehen, woher die einzelnen Religionsgeschichten kommen und worauf sie aufbauen, aber mich interessiert die Wahrheit, die dahinter steckt. Da geht's direkt um Energie, darum, eine Art von Kontrolle über dein Leben zu bekommen, Wissen zu erlangen. Und dieses Wissen möglichst effektiv einzusetzen und zu einem funktionaleren, besseren Menschen zu werden. All das ohne die lästigen Nebeneigenschaften, die Religion hat - dass man glaubt, Leute beeinflussen, bekehren oder transformieren zu müssen.
Das kann ich, und zwar völlig ohne Drogen, nur durch Konzentration. Ich könnte dir jetzt die Mechanismen erklären, aber das würde den Rahmen des Interviews sprengen. Da müssten wir uns darüber unterhalten, wie Bewusstsein aufgebaut ist, bis hin zu ganz elementaren Sachen, was unsere Ziele sind als Menschheit.
Mir geht es jedenfalls nicht darum, möglichst erfolgreich zu sein. Ich hätte bei einer Sache bleiben können, und die dann totfeaturen. Aber das interessiert mich nicht. Ich habe schon früher beim Skateboardfahren verinnerlicht, worum es wirklich geht: Um an dein Ziel zu kommen, benutzt du jedes Mal eine andere Oberfläche, aber die Werkzeuge bleiben gleich. Beim Skaten bedeutet das, nicht nur die krassesten Tricks zu machen, sondern sie auch zu stehen und dabei gut auszusehen, kurz: deinen Flow zu haben. Genauso ist es mit der Kunst. Ich hab meine Stilmittel und die technische Ausrichtung immer wieder verändert, habe mich auf unterschiedlichsten Oberflächen bewegt, aber die Werkzeuge bleiben gleich. Mit dieser Geisteshaltung, dieser Fähigkeit zur freien Assoziation, gibt es keinen Ort, dem ich mich nicht nähern könnte. Daher habe ich auch nicht das eine große Ziel vor Augen. Sondern sehe zu, dass ich einen Fuß hinter den anderen stelle, im Flow bleibe, und mit möglichst viel Wachbewusstsein die nächsten Schritte erspüre.
Aus den Fähigkeiten, die ich mir erworben hab - Musik, Bilder, Lifestyleanbindung, Menschen, Zeitgeist - könnte es in Richtung Film gehen. Das kann ich mir gut vorstellen. Ich hab kürzlich ein Script für einen Film geschrieben, in nur eineinhalb Stunden, für eine Freundin von mir aus Frankreich, die sehr erfolgreich Drehbücher schreibt. Wir haben uns schon öfter mal Ideen zugeworfen, und jetzt hatte ich eine geile Idee für einen romantischen Thriller. Hat noch keinen Titel, aber ist ne super Geschichte. Außerdem möchte ich gern ein Kinderbuch mit kleinen bebilderten Gedichten und Geschichten schreiben. Das ist etwas, das ich seit langer Zeit machen will, und in zwei Wochen werde ich endlich damit anfangen.
In zwei Wochen fahre ich für sechs Wochen zu Freunden nach Gran Canaria, da hab ich die nötige Ruhe. Dabei fällt mir übrigens doch was zum Thema „Träume" ein: dort hab ich im vergangenen Jahr einen riesigen Staudamm bemalt. Den hatte ich ein Jahr zuvor gesehen. Ich musste es ein Jahr sacken lassen, mir überlegen, wie man so eine fette Betonwand illegal bomben kann. Ich musste mir überlegen, wie ich da reinkomme und was ich da ranschreibe, und hab es dann gemacht. Das sind die Momente, die mich am meisten beglücken: wenn du ein Projekt hast, das über sehr lange Zeit warten muss - und dann machst du es irgendwann einfach.
Danke, Nomad, für dieses spannende Gespräch.
Text & Interview: Nico Cramer, Photos: Alex "Foley" Flach
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