Sebastian Pflugbeil kämpfte schon in der DDR gegen Atomkraft. Nach der Katastrophe in Japan wird der ehemalige Bürgerrechtler endlich gehört.
Der Mann, der den DDR-Atomausstieg herbeiführte, lebt in einem baufälligen Altbau in Berlin-Mitte. In einer Ecke des Wohnzimmers lehnt ein Cello, dicht am Fenster steht ein Cembalo. Vom obersten Regal der Bücherwand blickt eine Nofretete durch die Flügeltür ins Nebenzimmer, in dem Sebastian Pflugbeil, 64, an einem leer geräumten Holztisch sitzt. Roter Pullunder, hellblaues Hemd, struppig grauer Bart und Brille. Pflugbeil ist Physiker und Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz, war Bürgerrechtler und Minister der Modrow-Regierung. Und ist derzeit ein gefragter Mann. Seit vor einem Monat in Fukushima der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, sieht man sein Gesicht morgens neben den Hiobsbotschaften aus Japan in der Zeitung, mittags beantwortet Pflugbeil Fragen in TV-Talkshows. Abends dringt seine Stimme aus dem Radio. Ein Querdenker ist massentauglich geworden.
„Es ist seltsam, so in Mode zu sein", sagt Pflugbeil. „Eigentlich sollten sich andere Institutionen dazu äußern, aber die gehen auf Tauchstation." Die Anderen - das sind die offiziellen Stellen: Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, das Bundesamt für Strahlenschutz, Umweltminister Norbert Röttgen. Sie alle hielten sich bedeckt, sagt Pflugbeil. „Und bei mir klingelt's alle drei Minuten." Dazu Hunderte E-Mails. Täglich. Auch von besorgten Müttern, deren Töchter nach Malaysia oder sonst wo nach Asien reisen wollen. „Da kann ich nur sagen: Beste Grüße, ich kann Ihnen leider nicht helfen." Manchmal kommt auch der Forscher Pflugbeil auf seine Kosten. Dann landen frische Messdaten oder Fotos aus Fukushima im Mail-Fach. „Es findet ein guter Gedankenaustausch zwischen wachen Leuten statt."
Wittert er eine Chance? Sieht er ein Umdenken in Bevölkerung und Politik? Nun, da die Grünen Wahlen gewinnen. „Derzeit ist es einfach, den deutschen und japanischen Umgang mit der Kerntechnik zu kritisieren, bloß ich befürchte, dass das bald nachlassen und alles zur Tagesordnung übergehen wird." Die Debatte habe einen unangenehmen Geschmack. Er klingt resigniert, wie er da mit hängenden Schultern am Tisch sitzt.
Pflugbeil wird am 14.September 1947 in Bergen auf Rügen geboren. Seine Eltern sind Kirchenmusiker. Schon bald zieht die Familie nach Greifswald, wo Pflugbeil 1965 Abitur macht. Ein Jahr später geht in Rheinsberg das erste Atomkraftwerk der DDR ans Netz. Die Technik liefert die Sowjetunion. Etwa 20 weitere Meiler sollen folgen. Dass insgesamt nur zwei in Betrieb gehen werden, weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Pflugbeil studiert Physik, zieht nach Ost-Berlin, wird Mitarbeiter am Institut für Herz-Kreislauf-Forschung der Akademie der Wissenschaften. In den 80er-Jahren sucht er die Nähe zu Bürgerrechtlern, wettert gegen Kernwaffen, Uranbergbau und die Atomkraft, verfasst Aufklärungsschriften und gerät ins Visier der Staatssicherheit. Dem Regimekritiker wird seine Promotion verweigert. Erst nach dem Mauerfall wird ihm der Doktortitel zuerkannt.
Am 26.April 1986 um 01.23 Uhr explodiert ein Reaktor in Tschernobyl. Die Kernschmelze wird in der DDR totgeschwiegen. Das Wenige, was aus der Sowjetunion nach außen dringt, gelangt auch so in viele Ost-Berliner Wohnzimmer. Man schaut ja Westfernsehen. Zugleich landet der im Berliner Umland geerntete Kopfsalat, der in Westteil der Stadt keine Abnehmer mehr findet, in den Mittagessen der Kindergärten und Schulen. Die informierten Kinder lassen ihn liegen, die übrigen greifen ein paar Mal mehr zu. „Das hat einen einfach nur wütend gemacht", sagt Pflugbeil.
An einem Septemberwochenende 1989, zwei Monate vor dem Mauerfall, gründen rund 30 Oppositionelle das Neue Forum. Auch Pflugbeil unterschreibt den Gründungsaufruf der Bürgerbewegung und vertritt sie später am Zentralen Runden Tisch. Zur Stabilisierung der Lage sollen Oppositionsgruppen Anfang 1990 Vertreter in die Regierung Modrow entsenden. „Sich in einer untergehenden Regierung zu beteiligen, ist kein gutes Startbrett für eine politische Karriere. Daher wollte zunächst niemand den Job machen", sagt Pflugbeil. Am Ende wird er Minister ohne Geschäftsbereich. Ein seltsamer Titel für jemanden, der nur ein Ziel verfolgt: Ein Ende der Atomkraft. Und Minister Pflugbeil weiß seine Machtbefugnisse zu nutzen. Er verschafft sich Zugang zu Geheimakten, in denen Fachleute den desaströsen Sicherheitszustand der DDR-AKWs seziert haben. In schwarzen Ministertaschen schleppt er die Papiere abends nach Hause, vervielfältigt sie mit seinem Kopiergerät im Schlafzimmer - die Geräte waren damals noch verboten - und bringt sie am nächsten Morgen wieder ins Archiv.
Es ist hoch brisant, was Pflugbeil in seiner Wohnung an Unterlagen zum AKW Greifswald sammelt: fehlerhafte Materialien, unterqualifiziertes Personal, Schlampereien. Pflugbeils Ahnung bestätigt sich, und er verfasst ein Gutachten für den Runden Tisch. Es ist eine Bestandsaufnahme, die den Anfang vom Ende der ostdeutschen Kernkraftwerke besiegeln sollte. „Wir haben eine gute Sprengladung gelegt", sagt Pflugbeil. Nach der Veröffentlichung konnte auch der Westen die Lage nicht mehr verharmlosen. Anfang Juni 1990 wurden vier Reaktoren in Greifswald und das AKW Rheinsberg abgeschaltet. Die Sicherheitsmängel und die extrem hohen Kosten für eine Nachrüstung beendeten die Atomkraftgeschichte der DDR. Pflugbeil ist heute überzeugt, dass auch bestehende Atommeiler längst stillgelegt wären, wenn entsprechende Geheimberichte veröffentlicht würden.
Nach seinen Monaten in der Regierung Modrow saß Pflugbeil bis Mitte der 90er noch als Vertreter der Abgeordnetengruppe Neues Forum/Bürgerbewegungen im Berliner Abgeordnetenhaus. Dann reichte es ihm. „Das Politikgeschäft ist einfach widerlich, ein Theater. Die Abgeordneten drängeln sich vor die Kameras und danach gehen sie in die Kantine und bedienen sich. Wer an wissenschaftlichen Analysen oder nüchternem logischen Denken interessiert ist, erträgt das nicht." Pflugbeil kehrt der Politik enttäuscht den Rücken zu.
Stattdessen sucht er einen Weg zurück in die Forschung. Doch die Zeiten haben sich geändert. Mitte der 90er Jahre existiert seine alte Arbeitsstelle, die Akademie der Wissenschaften der DDR, nicht mehr, und fünf Jahre Abwesenheit im Forschungsbetrieb sind eine lange Zeit. Also macht er seine Berufung zum Beruf. 1999 wird er zum Präsidenten der Gesellschaft für Strahlenschutz. Ein Ehrenamt. Pflugbeils Ehefrau, eine Internistin, ernährt die sechsköpfige Familie.
Mit der Strahlenschutz-Gesellschaft geht Pflugbeil wieder in die Opposition. Die etwa 80 Mitglieder, die den 1990 gegründeten Verein finanzieren, sind Strahlenforscher jeder Couleur - Physiker, Mediziner, Biologen. „Diese Leute ärgert, wie sich die Obrigkeit bei diesem schwierigen Thema von Wirtschaftsinteressen und politischem Unsinn leiten lässt." Auf der Suche nach Argumenten reist Pflugbeil 2001 in die Sperrzone Tschernobyl und kriecht in den Sarkophag. „Die Riesenmengen Kies, Sand und Blei, mit denen sie die Ruine gefüllt haben wollen - das kann nicht stimmen. Es sind riesengroße leere Räume mit viel Luft."
Für Pflugbeil ein Argument mehr, dass die offiziellen Angaben, der Großteil des Kernbrennstoffs liege in der Ruine, erfunden sind. Seiner Meinung nach wurde der größte Teil bei der Explosion nach draußen geschleudert. „Trotzdem wird der seit Jahren geplante Bau des zweiten Sarkophags Milliarden verschlingen, nur als Beweis, dass man mit großen Katastrophen umgehen kann. Wenn der Westen etwas gegen die Gesundheitsschäden unternähme, gäbe er zu, dass es Schäden gibt. Das will er nicht."
Pflugbeil ist wiederholt in die betroffenen Gebiete gereist. „Viele der Liquidatoren faulen zu Hause einfach dahin, aufgegeben von den Ärzten, mit Krankheitsbildern, die in keinem Buch stehen. Deshalb tauchen sie auch in keiner Statistik auf." Er hat Kinder aus der Tschernobyl-Region nach Berlin eingeladen. Völkerverständigung, auch wenn es den Kindern unterm Strich wenig geholfen habe, gibt er zu. „Aber ich habe Familien in der Ukraine und Weißrussland kennengelernt und die Folgen von Tschernobyl gesehen. So etwas vergisst man nicht", sagt er. „Im Zweifel sollten wir auf der Seite der Geschädigten sein, nicht auf der der Unternehmen."
Wenn die Welt nicht gerade von einer Reaktorkatastrophe erschüttert wird, fühlt sich Pflugbeil manchmal schwach und allein gelassen. „Wir sind nur wenige, die viel Arbeit haben. Auf der anderen Seite steht ein Heer von willigen Wissenschaftlern auf Abruf bereit, die jedes unserer Gutachten mit fünf eigenen beantworten."
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