Nelli Tügel

Journalistin, Redakteurin, Berlin

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Der Freedom Day kommt, der Pflegenotstand bleibt

Führt die Mitte März in Kraft tretende einrichtungsbezogene Impfpflicht zu Personalausfällen an den Kliniken? Wer soll eine Corona-Prämie erhalten? Waren die Krankenhäuser in der Pandemie überlastet oder vielleicht doch nicht? Der öffentlichen Debatte, dem Großteil der Medien und der Politik zufolge sind dies die derzeit besonders relevanten Fragen.

„Verlogene Scheindebatten", sagt Silvia Habekost dazu. Sie arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Pflegekraft, heute in der Anästhesie bei Vivantes, einem der großen Klinikbetreiber in Berlin. Auf ihrer Station seien alle Kolleg*innen immunisiert, das Thema Impfpflicht spiele keine Rolle. Tatsächlich schwankt die Impfquote unter den Pflegekräften enorm: zwischen 92 Prozent in Rheinland-Pfalz und 66 Prozent in Sachsen. Habekost glaubt, eine allgemeine Impfpflicht, schon 2021 eingeführt, hätte helfen können. Die jetzige Diskussion aber empfindet sie als ärgerliche Ablenkung von den wesentlichen Themen. Die da wären, vor allem anderen: Entlastung. Es gebe zu wenig Personal, schon viel zu lange und schon lange vor der Pandemie. Trotz Corona, „Systemrelevanz" und des Balkonapplauses im Frühjahr 2020 aber veränderte sich seitdem: nichts.

Die Politik habe nicht auf die Beschäftigten gehört, sagt Habekost. Und ärgert sich, zum Beispiel, über die Debatte um Corona-Prämien. „Wir wollen nicht nur Prämien, wir wollen grundsätzliche Aufwertung. Doch stattdessen gibt es dann auch noch Diskussionen darüber, wer die Prämien überhaupt kriegen soll." Vergangenes Jahr habe es die Möglichkeit für echte finanzielle Anerkennung gegeben - während der Tarifrunde der Länder. Aber da hieß es, es sei kein Geld für höhere Löhne da. Entsprechend ernüchtert ist die Stimmung unter den Kolleg*innen, wenn es um die Politik geht: „Das ist alles so verlogen und genau so kommt es bei uns auch an."

Youtube und Sammlermünze

„Der Vertrauensverlust" sei riesig: So beschreibt auch David Wetzel die Stimmung an seinem Arbeitsplatz. Er ist Pfleger auf einer Krebsstation in der anderen großen Hauptstadt-Klinik, der Charité. „In den letzten zwei Jahren gab es seitens der Bundesregierungen keine einzige Initiative, um das Krankenhauspersonal zu entlasten", sagt er. Stattdessen die Youtube-Serie „Ehrenpflegas" oder die Ankündigung einer Sammlermünze „Pflege" als „Ausdruck des Respekts". Solcher „Zynismus" verstärke den Vertrauensverlust, so Wetzel. Er sieht es wie Habekost: Entscheidend sei Entlastung und bessere Bezahlung aller im Krankenhaus, nicht nur der Pflegenden. Hoffnung darauf, dass die Regierung reagiert, hat er aber nicht, auch nicht nach der Übernahme des Gesundheitsministeriums durch die SPD in der Ampel-Regierung. „Wir haben in der Pandemie gelernt: Wenn wir's nicht selber machen, macht's niemand", sagt Wetzel.

Was er damit meint: den wochenlangen Streik der Berliner Krankenhausbewegung im Herbst 2021, der erreicht hat, dass für Charité und Vivantes Tarifverträge zur Entlastung ausgearbeitet wurden. Sie legen verbindliche Personalschlüssel ebenso wie einen Ausgleichsmechanismus fest, sogenannte Entlastungspunkte, die gegen freie Tage eingetauscht werden können. Auch teils deutlich höhere Löhne wurden erkämpft.

Wie läuft die Umsetzung der Vereinbarungen? An der Charité ist der Tarifvertrag Entlastung bereits zum 1. Januar in Kraft getreten, bei Vivantes wird er ab April gelten. „Einige Kolleg*innen berichten, dass es in den einzelnen Diensten auf ihren Stationen spürbare Verbesserungen beim Personalschlüssel gibt", sagt Wetzel. Aber nicht auf allen Stationen, es sei schließlich „nicht von jetzt auf gleich mehr Personal da". Um die neuen Personalschlüssel überall einzuhalten, müsste die Charité rund 750 neue Pflegekräfte einstellen oder Teilzeitbeschäftigte überzeugen, in die Vollzeit zurückzukehren. Es ist nicht ohne Ironie, dass sowohl Charité als auch Vivantes inzwischen offensiv mit den Vorzügen der neuen Tarifverträge um Personal werben.

Etwa 80.000 zusätzliche Stellen für Pflegefachkräfte wären an den deutschen Krankenhäusern notwendig, „um eine sichere Versorgung zu gewährleisten", sagt die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Schon 2012 schnitt die Bundesrepublik in der internationalen Vergleichsstudie RN4CAST unter den Industrieländern bei den Personalschlüsseln besonders schlecht ab: Während eine Pflegekraft in den Niederlanden im Schnitt sieben Patienten versorgen musste, waren es in Deutschland dreizehn. Nachdem das Thema - unter anderem durch erste Streikbewegungen für mehr Personal an der Berliner Charité oder im Saarland - stärker in den Fokus rückte, reagierte Jens Spahn (CDU) 2018 mit der Verordnung über Pflegepersonaluntergrenzen. Wie von vielen damals befürchtet, hat sich die Situation seither aber nicht verbessert, durch den Zuschnitt des Gesetzes teilweise sogar noch verschärft.

Zurück zu welcher Normalität?

Dabei beziehen sich diese Zahlen des Mangels nur auf die Krankenhäuser und dort nur auf die Pflege: Die vielen nicht-pflegerischen Tätigkeiten, die für den Klinikbetrieb essenziell sind - Reinigung, Transport, Labor, Therapeutinnen -, sind noch gar nicht berücksichtigt. Noch dramatischer wird das Gesamtbild, wenn auch ambulante Pflege und Heimpflege hinzugenommen werden: Dann fehlen laut Deutschem Pflegerat 200.000 Pflegestellen, bis 2030 könnten es eine halbe Million sein. „Es ist so ähnlich wie beim Klimawandel. Man sieht die Katastrophe kommen, aber man reagiert nicht ausreichend." So hatte es die Präsidentin des Pflegerats, Christine Vogler, vergangenes Jahr der taz gesagt. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, der Nachwuchs fehlt, der Beruf ist unattraktiv - und die Berichte über Pflegende, die wegen der schlechten Bedingungen hinschmeißen, häufen sich.

Damit sie sich nachhaltig verbessern lassen, müsste sich das Finanzierungssystem ändern: „Die Gewinnorientierung ist das Grundübel der Branche", sagt Silvia Habekost. Die Pandemie habe das in absurder Weise vorgeführt: Da Krankenhausbetten frei gehalten und dafür Operationen verschoben werden mussten, brachen die Einnahmen der Kliniken ein; hätte der Bund nicht ausgeholfen, hätten Insolvenzen gedroht. Die 2004 eingeführten Fallpauschalen setzen die Kliniken unter Kostendruck; in der Altenpflege herrschen brutale Marktgesetze. Das Ende des DRG-Systems ist daher auch eine Forderung der Berliner Krankenhausbewegung; ihre bisherigen Erfolge sind Etappensiege, aber noch keine Lösung des Grundproblems.

Etappensiege allerdings, die auch andere nun erzielen wollen: Die nächste Runde großer Klinikstreiks könnte im Frühjahr in Nordrhein-Westfalen anstehen: Beschäftigte von sechs Unikliniken haben Ende Januar Landesregierung und Arbeitgebern eine hunderttägiges Ultimatum gestellt (der Freitag 4/2022). Schließen sie bis dahin keine Entlastungstarifverträge nach Berliner Vorbild ab, geht es in den Arbeitskampf.

Einer der bekanntesten Slogans bei Krankenhausstreiks lautet: „Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern der Normalzustand". Der Spruch ist schon viel älter als das Coronavirus. Die viel beschworene „Rückkehr zur Normalität" bezieht sich im Gesundheitswesen auf einen Zustand, der bereits hochgefährlich war. Denn: Die Bundesregierung mag einen Plan haben, um aus den Corona-Maßnahmen herauszukommen. Einen Plan, den Pflegenotstand zu beenden, verweigert sie weiterhin.

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