Heather Brown nimmt in ihrem Buch »Geschlecht und Familie bei Marx« dessen Gesamtwerk unter die Lupe und bezieht ihre Erkenntnisse auf bekannte feministische Kritiken.
Welchen Stellenwert Geschlechterverhältnisse und Frauenunterdrückung in Werk und Praxis von Karl Marx einnahmen, bewegt Arbeiterbewegung wie Feminismus seit sehr langer Zeit. Bereits 1903, zu seinem 20. Todestag, widmete sich Clara Zetkin dieser Frage in dem Aufsatz »Was die Frauen Karl Marx verdanken«. Spätere Feminist:innen und Sozialist:innen (nach 1968 marschierten sie zumindest in der Bundesrepublik ja erst einmal getrennt) haben dazu beigetragen, sein Werk kritisch zu erweitern und zu diskutieren, etwa hinsichtlich Arbeitsbegriff, Reproduktion und Mehrwert in der »Hausarbeitsarbeitsdebatte« der 1970er Jahre. Da aber, wie Zetkin schon feststellte, Marx »sich nie mit der Frauenfrage ›an und für sich‹ und ›als solcher‹ beschäftigt« hat, bleibt die Diskussion seines Beitrags zu feministischen Anliegen oftmals auf Aspekte seiner Methode und seiner Ergebnisse beschränkt oder betrachtet diese isoliert.
Heather Brown, deren Buch »Geschlecht und Familie bei Marx« seit Kurzem in deutscher Übersetzung im Dietz-Verlag vorliegt, sieht darin ein Problem und wählt einen holistischen Ansatz. Ihre Schrift ist ein Versuch, das Marxsche Gesamtwerk auf die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen hin zu untersuchen. So schreibt Brown: »Meines Wissens gibt es bisher keine Studie, die alle Arbeiten von Marx zum Thema Geschlecht, einschließlich seiner ethnologischen Exzerpthefte, behandelt hat. Die vorliegende Studie wird versuchen, diese bedeutende Lücke in der Marx-Literatur zu füllen« (S. 12). Dass sich demselben Projekt (inklusive der ethnologischen Exzerpthefte!) Mitte der Nullerjahre bereits das Redaktionskollektiv der damaligen Wiener Arbeitsgruppe Marxismus gewidmet und im Selbstverlag das 500-seitige Werk »Geschlechterverhältnisse bei Marx und Engels« herausgebracht hatte, darf einer Assistenzprofessorin in Massachusetts natürlich entgangen sein, sei hier aber dennoch erwähnt. Auch bei anderen, etwa Silvia Federici, konnte man in den vergangenen Jahren schon einiges von dem nachlesen, was Brown zu Papier gebracht hat, wenn auch zum Teil anders interpretiert – zu berücksichtigen ist allerdings, dass »Geschlecht und Familie bei Marx« im Original vor fast zehn Jahren erschien.
So oder so ist Browns Buch lesenswert. Es liefert eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten für heutige feministische Debatten und Kämpfe: Brown extrahiert aus den untersuchten Schriften eine dialektisch-materialistische Methode, mit der sich nicht nur das Geschlechterverhältnis, sondern auch binäre und biologistische Vorstellungen von Geschlecht selbst angreifen lassen. Marx Argumentation scheine »in die Richtung zu weisen, Geschlecht als eine dynamische und nicht als statische«, als »sich entwickelnde und verändernde Kategorie« zu verstehen, da weder Natur noch Gesellschaft statische Entitäten sind und es damit »keine überhistorische Vorstellung von dem geben (könne), was ›natürlich‹ sei« (S. 247). Bekannte feministische Kritiken, wie etwa jene, Marx habe den wesentlichen Beitrag von Frauen zur Ermöglichung der kapitalistischen (Mehrwert) Produktion in seinem Werk systematisch ignoriert, weist Brown an vielen Stellen sanft zurück, taucht tief ein in die Schriften und bietet dort, wo Marx in der Tat uneindeutig oder schweigsam bleibt, sein analytisches Werkzeug an, um mit Marx gewissermaßen über Marx hinauszugehen.
Ohnehin sieht Brown in der dialektischen Methode an sich den »wichtigsten Aspekt der Arbeit von Marx für das Verständnis von Geschlecht und Familie« (S. 254). Besonders interessant sind überdies die Ausführungen zu Differenzen zwischen Marx und Engels in der Erklärung der Ursprünge des Patriarchats. »Im Gegensatz zu Engels’ monokausalem, unilinearem Modell« habe Marx auch thematisiert, wie sich schon vor der Entwicklung des Privateigentums unter anderem Geschlechterantagonismen entwickelten, so Brown (S. 19). Das ist deshalb relevant, weil erstens Engels »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« ja bis heute viel gelesen (und auch zu Recht kritisiert) wird, zweitens aber beider Ansichten dazu oftmals in eins gesetzt werden, da kein vergleichbares Einzelwerk von Marx zu dieser Frage existiert. Dem Vergleich zwischen Marx und Engels widmet sich Brown daher ausführlich.
Marx war in Bezug auf den hier besprochenen Themenbereich aber nicht nur Theoretiker. Darum erläutert Brown in einem eigenen Kapitel, wie dessen politische Praxis in Sachen Frauenbewegung aussah – und wie sie sich unter dem Eindruck vor allem der Pariser Commune, in der Frauen eine wesentliche Rolle spielten, weiter entwickelte. Innerhalb der Ersten Internationale setzte sich Marx für Gleichberechtigung ein, »drängte die Sektionen der Internationale, Frauen die Mitgliedschaft zu ermöglichen und die Forderungen der Frauen in ihre Programme aufzunehmen« (S. 157). Auch Browns eigenes Interesse ist kein rein theoretisches. Sie will einen Beitrag zur Entwicklung eines neuen antikapitalistischen Feminismus leisten, da Poststrukturalismus und Differenztheorien dazu, wie sie schreibt, nicht in der Lage gewesen seien. Ob dies stimmt sei dahingestellt, in jedem Fall ist ihre Schrift ein hilfreicher Beitrag, um das von ihr formulierte Ziel zu erreichen.
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