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Lesbos: „Wir machen hier den Job der Behörden"

Von hier aus geht es ins Auffanglager: Flüchtlinge stranden an der Küste von Lesbos. / Foto: Katerina Apostolidi

Auf der Insel Lesbos stranden täglich bis zu 3.000 Flüchtende mit Gummibooten von der nahen türkischen Küste. Gemeinde und freiwillige Helfer bemühen sich, die Menschen zu versorgen. Doch es sind nie genug.


Mit Katerina Apostolidi


Eftalou / Kalloni / Kara Tepe / Moria / Mytilini (n-ost) — Es gibt alle Arten von Ankunft an der Küste von Eftalou: jubelnde, verzweifelte, traurige. Flüchtlinge, die ihr Stranden mit Selfie-Stick dokumentieren, im Hintergrund das nur wenige Kilometer entfernte türkische Festland. Es gibt betende und weinende Ankömmlinge und Leute, die zu früh aus dem Boot steigen und dann mit triefnasser Kleidung an die steinige Küste stolpern.

Es gibt schreiende Kinder und Kranke, die gestützt werden müssen; Leute, die sich bedanken und gemeinsam mit Helfern Müll aufsammeln. Ein Kreis von Männern sitzt am Strand und zählt das Geld für die Weiterreise. Eine Frau wirft türkische Lira in die Luft.

Insassen des fünften oder sechsten Bootes an diesem Morgen kommen mit dem Schrecken davon. Die türkische Küstenwache habe sich genähert und auf halber Strecke Schutzgeld von ihnen verlangt, mit Warnschüssen. Dabei sei plötzlich einer von ihnen ins Wasser gefallen, erzählen sie. Ein anderes Boot habe ihn dann aus dem Wasser gezogen.


Die Bootsmotoren sind begehrt

Basil, ein junger Mönch aus Damaskus, trägt ein Schlüsselband seines Ordens um den Hals, das Mitbrüder aus Deutschland nach Syrien geschickt haben. Darauf steht wie ein Gebet „Damit das Leben junger Menschen gelingt“. Am Band hängt eine Trillerpfeife, ein Geschenk von einem Freund. Basil will zu seinem Bruder nach Frankfurt am Main. Verstört schaut er sich um. „All die Autos hier! Warum?“

Zwei Müllmänner von der Inselgemeinde reden auf Griechisch auf die Neuankömmlinge ein. Die Kinder und Frauen sollen auf die Laderampe ihres Autos. Die Männer wollen sie zum nächsten Dorf bringen, wo ein spezieller Bus sie abholen soll. Die Übrigen müssen die vier Kilometer laufen. Ein Fotograf hilft aus mit Englisch.

Eigentlich ist der Job der Männer, die Haufen von Schwimmwesten und zerstörten Gummibooten an dem acht Kilometer langen Küstenabschnitt in eine Grube zu schaffen und die Bootsmotoren zu sichern. Auf die haben es einige Männer aus umliegenden Dörfern abgesehen, die auf der Küstenstraße stundenlang hin- und herfahren. Mit den Motoren lässt sich Geld machen.


Unterschlupf in einer Kirche

Basil macht sich mit weiteren Mönchen, alle ohne Kluft, zu Fuß auf den Weg zum Bus ins Camp Kara Tepe, der Registrierungsstelle für syrische Flüchtlinge. Die Nicht-Syrer müssen dafür ins Camp Moria. Beides sind staubige, stinkende Zeltlager, etwa 50 Kilometer vom Strand entfernt im Süden nahe der Hafenstadt Mytilini. Erst dann können die Flüchtenden legal ein Ticket für die Fähre kaufen.

Basil hat Glück. Er schafft es, sich noch am Tag seiner Ankunft zu registrieren. Am nächsten Morgen steht er in Mytilini an der Hafenpromenade und hat schon das Ticket nach Athen in der Tasche. Unterschlupf für die Nacht fand er in einer Kirche.

Aliueza aus Afghanistan kommt nicht so gut durch. Zwei Tage haust er im Camp Moria, um zur Registrierung vorgelassen zu werden. Die Polizei drückt Menschen, die nicht in der Reihe bleiben, gegen einen Metallzaun. Aliueza ist in Eile, er will nach Deutschland. „Vielleicht sind die Grenzen bald wieder zu“, überlegt er.

Er musste weg aus seiner Heimatstadt Masar-i-Sharif. Dort wurde er mehrmals mit dem Tod bedroht, weil er „christliche Sprachen“ verbreite. Er unterrichtete Englisch und Russisch. Zwei Tage später hat Aliueza es auf das Schiff nach Athen geschafft. Die griechischen Behörden in Moria hätten schließlich auf Foto und Fingerabdruck verzichtet, berichtet er. Er habe lediglich seinen Namen sagen müssen und dann das Papier zur Weiterreise bekommen.


Ein Bauunternehmen spendet ein Fahrzeug

Die Spur der großen Wanderung zieht sich über die Insel. Lesbos ist eins der Tore der Balkanroute, über die zur Zeit zehntausende Flüchtlinge nach Europa kommen. Handykarten, leere Koffer, abgelaufene Schuhe und nasse, zu schwer gewordene dicke Jacken liegen abgeworfen am Wegrand. Einheimische haben Schilder auf Arabisch aufgehängt mit der Bitte, Abfall in die Mülleimer zu entsorgen. 85.000 Bewohner hat die Insel, jeden Tag kommen derzeit 2.000 bis 3.000 Flüchtende auf Lesbos an.

Die Insel agiere wie im Ausnahmezustand, sagt der Bürgermeister Spyros Galinos in seinem Büro gegenüber dem Hafen. Die Flüchtlinge nehmen jeden Tag den Hauptteil seiner Zeit in Anspruch, alles übrige muss er nebenbei regeln. „Die Finanzkrise haben wir fast vergessen“, sagt Galinos. Gerade hat sich er an seinen antiken Schreibtisch gesetzt, da überbringt eine Mitarbeiterin eine gute Nachricht: Ein griechisches Bauunternehmen hat Lesbos ein Reinigungsfahrzeug gespendet.

Der rechtskonservative Politiker wird auf der Insel für sein Krisenmanagement geschätzt, auch von Menschen, die politisch auf der anderen Seite stehen. Galinos. Er hat ein drittes Camp für besonders schutzbedürftige Menschen eröffnen lassen. Bei all dem Müll und den verstopften Toiletten, sei es vor allem eine psychische Anstrengung für die Insel, sagt Galinos. Er bräuchte dringend mehr Leute, aber wegen der Sparpolitik gilt ein Einstellungsstopp.


Ehrenamtliche Helfer

Als die Lage Ende August mit 20.000 Wartenden im Hafen von Mytilini besonders angespannt war, fürchtete er rassistische Ausschreitungen. Die Situation sei gewesen, „als hätte ich eine Bombe in der Hand“, sagt Galinos. Seine Hilferufe wurden von der griechischen Regierung gehört. Sie hat Lesbos gerade eine halbe Million Euro überwiesen. Weitere 500.000 Euro an geschätzten Kosten stünden noch offen, so Galinos.

Die damalige Übergangspremierministerin Vasiliki Thanou-Christofilou sorgte zudem dafür, dass mehr Schiffe von Lesbos aufs griechische Festland fuhren und die Flüchtlinge schneller weiterreisen konnten. Gemeinde und UNHCR stellen Busse nach Mytilini bereit. Aber es sind nie genug.

Auch die Helfer des Vereins „Agkalia“ in Kalloni versuchen, den nicht abreißenden Strom von Menschen aufzufangen. Der Ort liegt etwas abseits zwischen Eftalou und Mytilini. Die Flüchtenden, die es nicht direkt zu den Camps schaffen, landen hier nach 30 Kilometern Fußmarsch.

„Agkalia“, wörtlich: Umarmung, ist ein kleines Ladenlokal geschmückt mit ein paar Wimpelketten und ausgelegt mit Matten, auf denen täglich um die 500 Flüchtende rasten. Den Verein gründeten vor zehn Jahren der örtliche Pfarrer und einige Bewohner Kallonis. Er hat immer schon einzelnen Menschen Hilfe angeboten, die es brauchten, auch Geflüchteten – ehrenamtlich.


Drei Millionen Euro Schulden bei der Catering-Firma

Nun verteilen freiwillige Helfer Sandwiches, Wasser, Milch und Äpfel, sprühen Jod auf wundgelaufene Füße und beantworten unermüdlich die Frage: „Kommen wir heute noch nach Mytilini?“. Aus Spendengeldern ordern sie Busse für die Weiterreise in die Camps. „Agkalia“ ächzt aber unter dem Andrang der letzten Monate. Giorgos Tyrigos-Ergas, Gründer des Vereins, hatte keinen freien Tag mehr seit Monaten.

Es fehlt an Koordination von Helfern und Spenden. Tyrigos-Ergas will nicht auch noch eine NGO mit Freiwilligen managen. Eigentlich ist er Geschäftsmann, betreibt einen Supermarkt. Die Flüchtlingspolitik der EU und seines Landes frustriert ihn: „Wir machen den Job, den die Behörden machen sollten!“

Die Polizei hat vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass sie kein Essen mehr an die Flüchtenden in den Camps Moria und Kara Tepe ausgibt. Sie schuldet den Catering-Firmen bereits drei Millionen Euro. Regen und Sturm sind außerdem für die kommenden Tage angesagt. Die EU hat noch nicht auf den Hilferuf von der Insel Lesbos reagiert.

Bürgermeister Spyros Galinos beteuert trotzdem seinen Glauben an die „europäische Familie“. Er hat sich selbst überlegt, wie er dem Problem Herr werden kann und es dem Europäischen Parlament vorgeschlagen. Die Camps sowie eine erste Asylprüfung sollten seiner Meinung nach schon auf türkischem Boden stattfinden. Danach können die Menschen offiziell und geordnet einreisen. Mit seinen Kollegen in der Türkei hat er schon gesprochen.



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