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Universität im Exil: Ein Mythos in Gefahr

Die Uni musste von Minsk nach Litauen umziehen. © Petras Malukas/AFP/Getty Images

Anatoli Michailow zitiert gern große Denker. Sie helfen ihm über die Niederungen hinweg, in die seine vertrackte Aufgabe ihn geführt hat. Kant, Arendt, Gadamer - all diese Namen bemüht Michailow, um den Zustand zu beschreiben, in dem sich seine Universität befindet. Michailow ist Philosophieprofessor, Gründer und Rektor der European Humanities University (EHU), der einzigen Exil-Universität Europas. Vor zehn Jahren musste sie in ihrer weißrussischen Heimat Minsk schließen, auf Betreiben von Präsident Alexander Lukaschenko. In Litauen fand sie Zuflucht.

Auf einem der Hügel am Rande der Altstadt von Vilnius sitzt Michailow, 75, ganz oben im dritten Stock eines Backsteinbaus, den die hiesige Universität der EHU als Verwaltungsgebäude zur Verfügung gestellt hat. In seinem Zimmer steht ein Globus, an der Wand hängt ein Plakat mit Flaggen der Länder, die der Exil-Universität Geld geben. Auch Deutschland ist dabei, der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) finanziert einen Dozenten, der das Zentrum für Deutschlandstudien leitet. Zusätzlich gibt die EU jährlich eine Million Euro. Einige Staaten allerdings haben ihren Anteil mit der Wirtschaftskrise gestrichen. Doch sinkende Zuschüsse sind nur eines von vielen Problemen, die dem Rektor der privaten geisteswissenschaftlichen Hochschule Sorgen bereiten. Michailows schmales Gesicht ist von tiefen Furchen durchzogen, es liegt ein unfassbarer Ernst darin. Ein Gesicht, das zu dieser Universität passt.

Mit zwei Mitstreitern gründete Michailow 1992 die EHU. Damals, zwischen dem Ende der Sowjetunion und dem Amtsantritt des Autokraten Lukaschenko 1994, herrschte gerade ein kurzer demokratischer Frühling. Die Gründer machten sich daran, eine akademische Stätte mit liberaler Geistestradition aufzubauen, in einem Land, in dem es so etwas zuvor kaum gegeben hatte. Die EHU wollte europäische Hochschulbildung in Weißrussland etablieren. Und Michailow wurde ihr Rektor. Seinen Netzwerken ist es zu verdanken, dass die EHU Förderer fand. Er hatte schon zu Sowjetzeiten eine ungewöhnliche Karriere gemacht: In Jena hatte er über Heidegger promoviert und später eine Zeit lang bei den Vereinten Nationen in New York gearbeitet. "Eine kritische Masse unterschiedlich ausgebildeter Leute zu formen, die zu positiven Veränderungen im Land beiträgt - das ist immer das Ziel der EHU gewesen", sagt Michailow.

Von Veränderungen aber ist Weißrussland derzeit mehr denn je entfernt. Präsident Lukaschenko führt das Land autokratisch und unangefochten. Er profitiert von dem Krieg in der Ukraine. Angesichts des Chaos im Nachbarland gilt er selbst einem Teil der regierungskritischen Intelligenzija als Garant der Stabilität. Und so bleiben die Verhältnisse unverändert, und das Land bleibt isoliert. Oppositionelle werden gegängelt, ins Gefängnis gesteckt oder ins Ausland verbannt. Für die EHU ist an eine Rückkehr nach Minsk nicht zu denken.

Jemand bringt Kaffee, Kaffee für den Wartenden. Diese unsowjetische Respektbekundung habe früher manche, die in der EHU einen Termin hatten, zu Tränen gerührt, so liest man es in einer Broschüre zur Geschichte der Universität. Die EHU wollte und hat sich in vielem von weißrussischen staatlichen Hochschulen unterschieden. "Eine zwanglose Beziehungsdemokratie des Vertrauens und der Gleichheit" habe dort geherrscht, so beschreiben Mitarbeiter das Klima in den Gründungsjahren. Heute dagegen seien "weißrussische Verhältnisse" eingezogen. Es herrsche Angst und Misstrauen und ein Management, das versucht, all jene loszuwerden, die sich weigern, die Reformen hinzunehmen.

Die European Humanities University - einst das Symbol der Hoffnung auf Freiheit, steht jetzt, im 22. Jahr ihrer Existenz, vor einer Zerreißprobe. Wie konnte das passieren?

Effizienter und internationaler wollten Michailow und das von ihm neu eingesetzte Management die EHU machen. Die rund 1.500 Studenten sollen nicht mehr nur aus Weißrussland kommen, auch Lehrende aus dem Ausland wollten sie rekrutieren. Zugleich wurde eine ganze Reihe von Professorenstellen aus Spargründen gestrichen, während die Verwaltung ausgebaut wurde. Der akademische Senat wurde entmachtet und bei wichtigen Entscheidungen übergangen. Viele Senatsmitglieder und Lehrende sehen die Entwicklung kritisch und empfinden sie als gegen die Mission der Exil-Uni gerichtet, aber auch gegen sich selbst. Der Senat will mehr Verknüpfung mit der Zivilgesellschaft in Weißrussland, und er will die als intransparent empfundene Verwaltung stärker kontrollieren. Michailow interessierten die Proteste nicht. Er sorgte vielmehr dafür, dass die kritischen Senatsmitglieder in diesem Jahr entlassen wurden.

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