Der Mensch sehnt sich nach Ordnung. Die Welt erscheint uns übersichtlicher, wenn wir alles in Rangfolgen einteilen oder eine To-do-Liste abarbeiten. Manchmal ist das unterhaltsam und hilfreich. Doch öffentliche Rankings sind oft nicht objektiv und kaum aussagekräftig.
Nicht nur etwas für Spießer und Kontrollfreaks: Listen helfen uns dabei, die Gedanken zu sortieren oder uns einen Überblick zu verschaffen.Foto: Mauritius
Stuttgart - Johnny Cash wusste genau, was zu tun ist. Punkt eins: Nicht rauchen. Punkt zwei: June küssen. Punkt drei: Niemand anderen küssen. Diese Reihenfolge hielt der Countrysänger in einer veröffentlichten To-do-Liste fest. Heute findet man sie neben anderen kuriosen und bewegenden Listen von Nobelpreisgewinnern, Sängern, Politikern und Sportlern in dem Buch „Lists of Note" des Schriftstellers Shaun Usher. Und siehe da: Von Picasso bis Einstein, von Nick Cave bis Michelangelo, von Marilyn Monroe bis John Lennon - jeden von ihnen packte die Lust an der Liste.
Lust an der Liste? Offenbar begeistern solche planvollen Ordnungsverpflichtungen nicht nur Spießer und Kontrollfreaks, sondern auch Musiklegenden und Sex-Ikonen. Nicht einmal die Mafia konnte sich ihrer Faszination entziehen: Als Salvatore Lo Piccolo, Oberhaupt der sizilianischen Cosa Nostra, im Jahr 2007 festgenommen wurde, entdeckte die italienische Polizei in seinem Versteck einen Zettel mit Sätzen, die später unter dem Label „Die zehn Gebote der Mafia" firmierten. Drei davon hätte man nicht erwartet: „Geh in keine Kneipen und Nachtclubs. Lass die Finger von den Frauen der Freunde. Lass dich nie mit Bullen blicken."
Listen faszinieren uns. Die Liste ist nüchtern, schnörkellos, prägnant. Sie beschränkt sich auf das Wesentliche, passt zu jedem Anlass und ist zeitlos. Jetzt hat auch die Wissenschaft das Thema entdeckt. Literaturwissenschaftlerin Eva von Contzen hat an der Universität Freiburg ein Forschungsprojekt entwickelt, das die Bedeutung von Listen in verschiedenen Literaturepochen untersucht. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Zuerst hat sich die Anglistin über eine Liste geärgert.
In einem der ältesten schriftlichen Werke Europas, der Ilias von Homer, die wohl im achten Jahrhundert vor Christus entstanden ist, wird im sogenannten Schiffskatalog genau aufgezählt, welche griechischen Kämpfer in den Krieg gegen Troja zogen. Die endlos anmutenden Ausführungen unterbrechen den Rhythmus der epischen Verse und stören den Lesefluss. „Ich habe mich gefragt, warum das in Kauf genommen wurde", sagt Eva von Contzen. Irritation stand am Anfang ihrer Arbeit. Im Laufe der Zeit entwickelte sie folgende These: Listen zeigen, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen und ordnen. Sie verweisen auf das, was Menschen in einer bestimmten Epoche wichtig ist. Und sie stellen dar, wie sie Inhalte kognitiv verarbeiten. Im Falle der Ilias diente die endlose Liste der Kriegsführer der Identitätsbildung. „Kam die eigene Familie in der Aufzählung vor, durfte man sich als Teil der Geschichte fühlen", erklärt die Wissenschaftlerin. Dafür wurde das Unterbrechen des Erzählflusses billigend in Kauf genommen. Im Mittelalter hingegen verfolgten die Menschen mit dem Erstellen von Listen einen enzyklopädischen Anspruch. Dabei ging es darum herauszufinden, wo man sich mit seinem eigenen Wissen verorten konnte.
Auch heute sind wir von Listen umgeben: In sogenannten Listicles – eine Wortkombination aus dem englischen Begriff „List“ und „Article“ – listen Webseiten wie Buzzfeed die Städte mit der besten Lebensqualität, die zehn aggressivsten Tierarten, die peinlichsten Promi-Outfits und die hundert einflussreichsten Menschen. Im Zeitalter des Internets ist also ein eigenes Listen-Genre entstanden. Unabhängig davon existieren etablierte Listen wie die Forbes-Liste, Hochschulrankings oder Fußballtabellen. Jenseits des Ordnens und Systematisierens lädt die Liste offensichtlich dazu ein, Inhalte zu hierarchisieren. Auch eine Googlesuche ist nichts anderes als eine Liste von Treffern, die von einem Algorithmus in eine bestimmte Rangfolge gebracht werden. Das birgt Gefahren. Vor allem wenn nicht klar ist, nach welchen Kriterien die Rangfolge erstellt wurde.
Oliver Berli arbeitet an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln und hat sich mit der Soziologie des Bewertens und Vergleichens beschäftigt. „Wir leben in einer Zeit des Informationsüberflusses und der Unübersichtlichkeit. Hier bieten Listen und Rankings die Chance, sich zu orientieren“, erklärt der Soziologe. Webseiten wie „Stadtbesten“ ranken die besten Dönerläden, Kitas und Eisdielen verschiedener Städte und versprechen dabei Orientierung. Die Bewertungen geben die Nutzer selbst ab. Diese Ranglisten sollen dem Konsumenten die Entscheidungsfindung erleichtern. Gerade in der vermeintlichen Abgeschlossenheit der Liste liegt die Verheißung: Wichtig und gut ist nur, was gerankt wird. Den Rest darf ich als Verbraucher guten Gewissens ignorieren. Was für eine Entlastung.
Mit Listen lässt sich Politik machen
Listen sind ein mächtiges Instrument, menschliches Verhalten zu beeinflussen. Bei der Liste der zehn aggressivsten Tierarten mag mangelnde Offenlegung der Kriterien noch vergleichsweise harmlos sein – hier dient die wahllose Rangfolge vor allem der Unterhaltung. Im Falle von Hochschulrankings sieht die Sache anders aus. Dabei treffen die Leser eine Entscheidung über ihren künftigen Bildungsweg. Und nicht nur das: Auch die Zuteilung von Drittmitteln erfolgt über die Platzvergabe bei Rankings. Mit ihnen lässt sich handfeste Politik machen. Viele Experten sehen das kritisch.
„Rankings suggerieren immer, dass die aufgelisteten Stichworte, Ereignisse oder Menschen zumindest in einer Hinsicht vergleichbar sind“, sagt Oliver Berli. „Oft trifft das jedoch nicht zu: Bei der Liste ,Die 100 einflussreichsten Intellektuellen’ ist nicht klar, wer bestimmt, was als einflussreich gilt und wer als intellektuell zählt.“ Zudem verleiten Rankings oft zu dem Denkfehler, dass in einer Top-Ten-Liste der Abstand zwischen Platz Eins und Zwei gleich groß ist, wie der zwischen Platz Fünf und Sechs. Das ist aber nicht der Fall.
Dennoch fasziniert den Menschen das Vergleichen-Können. Das Messen miteinander unterlag im Laufe der Jahrhunderte einigen Veränderungen. „Im 18. Jahrhundert wäre wahrscheinlich niemand auf die Idee gekommen, Mozart, Beethoven und Haydn in eine Top-Ten-Liste der talentiertesten Komponisten einzusortieren“, sagt der Soziologe Oliver Berli. Der damalige Geniekult hätte das gar nicht erlaubt. Jedes Genie war einzigartig.
Listen gab es natürlich trotzdem. Nur waren diese alphabetisch sortiert. Die Werte, die einzelnen Menschen zugewiesen wurden, standen hinter den Namen. Um herauszufinden, welchen Wert Haydn bekommen hat, musste der frühere Leser also unter H nachschlagen. Ähnlich wie bei heutigen Restaurantführern waren die besten Plätze nicht exklusiv vertreten, es konnten mehrere Restaurants mit der gleichen Note abschneiden. Mitunter die ehrlichere, aber weniger kompetitive Form.