Maria aus Freiburg ist seit vier Monaten mit einem 53-jährigen Mann unterwegs. Sie ist 13 Jahre alt. Die Polizei geht davon aus, dass Maria freiwillig bei dem Mann ist. Ihre Mutter ist verzweifelt. Eine Chronik.
Das letzte Mal telefoniert Monika Beisler mit ihrer Tochter Maria Henselmann am 4. Mai. In dieser Nacht verschwindet die 13-jährige Freiburger Gymnasiastin mit dem 53-jährigen Elektriker Bernhard Haase. Die Polizei sucht ihn mit internationalem Haftbefehl wegen Kindesentziehung und sexuellem Missbrauch. Maria ist dem älteren Mann, den sie in einem Internetchat als "Karlchen" kennengelernt hatte, wahrscheinlich freiwillig gefolgt.
Monika Beisler spricht ruhig und kontrolliert. Die Bücher im Regal hinter ihr sind nach Farben sortiert. Bücher über die Rolling Stones wechseln sich ab mit Fantasyromanen. Es riecht nach kaltem Rauch. Auf der Sofalehne hinter Beisler liegen zwei ihrer drei Katzen. "Für jeden von uns eine", sagt sie. Eine für sie, eine für ihren Sohn Daniel (14) und eine für Maria. Ihre Jüngste. "Wir wohnen hier ja zu dritt", sagt Monika Beisler. Auch wenn sie und ihr Sohn seit vier Monaten zu zweit sind. Denn Maria fehlt.
Die Mutter wird misstrauisch
Das letzte Mal sieht Beisler ihre 13-jährige Tochter an einem Samstag Anfang Mai. Maria will bei einer Freundin übernachten. Doch als Beisler bei dieser anruft, weiß deren Mutter von nichts. Beisler macht sich keine Sorgen, vermutet, dass ihre Tochter spontan zu einer anderen Freundin gegangen ist. Fehlanzeige. Beislers Telefon klingelt. Maria ist am Apparat. Sie sagt, sie habe sich in der Freiburger Innenstadt verlaufen. Es klingt entschuldigend. Beisler fordert ihre Tochter auf, sich in ein Taxi zu setzen und heimzukommen. 45 Minuten vergehen. Maria ist immer noch nicht da. Beislers Telefon klingelt erneut. Wieder ist es Maria. Das Taxi sei jetzt schon am Holzmarkt, sagt sie. Da wird Beisler misstrauisch. Sie hört keine Straßengeräusche. Nichts. Die Mutter fordert die Tochter auf, ihr den Taxifahrer ans Handy zu holen. Maria sagt: "Das geht nicht, der fährt." Ihre Stimme klingt gelassen. Die Mutter gerät in Panik. Sagt, sie werde jetzt bei der Polizei anrufen, die werde Marias Handy orten. Daraufhin schaltet Maria ihr Handy aus.
"Maria hat in der Nacht, bevor wir aufs Polizeirevier mussten, unter Haases Anleitung die ganzen verfänglichen Dateien gelöscht."
Schon einmal kam es zu einem Kontakt mit der Polizei: Frühling 2012. Kriminalbeamte stehen vor Monika Beislers Haustür im Freiburger Stadtteil Weingarten. Sie bitten die Mutter, am nächsten Morgen mit der Tochter aufs Revier zu kommen. Dort erfährt Monika Beisler, dass ihre Tochter im Internet mit einem 53-jährigen Mann chattet, der sich als Jugendlicher ausgibt. Er nennt sich Karlchen und steht in dem Verdacht, pädophil zu sein. "Ich habe bei der Polizei Chat-Auszüge zu sehen bekommen. Mir wurde richtig schlecht", sagt Beisler. Die Polizei vernimmt Mutter und Tochter getrennt. Den Beamten erzählt Maria, dass sie dem Mann schon persönlich begegnet sei. Um sie zu sehen, ist der 40 Jahre ältere Elektriker Bernhard Haase aus dem westfälischen Blomberg extra nach Freiburg gefahren. Maria habe gesagt, dass sie den Müll rausbringe, so Beisler. Im Hof wartet Haase auf sie. Maria erschrickt. Sie hat einen 14-jährigen Jungen erwartet, nicht einen 40 Jahre älteren Mann. Ihrer Mutter erzählt sie davon nichts. Diese erfährt es erst auf dem Revier.
Nachdem die Polizei nach der Vernehmung alle internetfähigen Geräte der Beislers mitgenommen hat, ist die Mutter mit ihrer Tochter allein. "Ich wollte von ihr wissen, ob sie ihm Bilder von sich geschickt hatte. Doch sie hat sofort zugemacht", sagt Beisler. In den folgenden Tagen sichtet die Polizei Chat-Protokolle, Mails und Festplatten, doch sie findet wenig. "Maria hat in der Nacht, bevor wir aufs Polizeirevier mussten, unter Haases Anleitung die ganzen verfänglichen Dateien gelöscht", sagt Beisler. Rausgekommen sei das Ganze überhaupt nur, weil Haases Ehefrau ihn beim Chatten erwischt habe. Daraufhin habe sie ihn vor die Tür gesetzt und den Rechner zur Detmolder Kriminalpolizei gebracht. Anhand der IP-Adresse habe diese herausgefunden, dass er auch Kontakt zu Maria gehabt habe.
"Ich war richtig wütend auf sie."
In den folgenden Tagen habe Beisler nichts unversucht gelassen, um Maria zum Reden zu bringen. Sie habe getobt, auf sie eingeredet, es mit Sanftmut probiert - doch die 13-jährige Gymnasiastin sei verschlossen geblieben. "Ich war richtig wütend auf sie. Ich habe zu ihr gesagt: War dir nicht klar, was du da tust? Wie kannst du einen Pädophilen auf den Parkplatz bestellen, wenn nebenan ein Kinderspielplatz ist", sagt sie. Sie zieht ihre Augenbrauen nach oben, als würde sie eine Reaktion erwarten.
Hat sie Schuldgefühle? "Was meinen Sie jetzt? Ob ich irgendetwas anders gemacht hätte?", fragt Beisler. Sie schweigt. Man hört nur das Ticken der Wanduhr und ein kratzendes Geräusch. Beisler wendet sich ruckartig um und ruft: "Ich glaube, du spinnst!" Eine ihrer Katzen ist gerade dabei, ihre Krallen in die Sitzkissen des Stuhls zu bohren. Nun flüchtet sie hektisch auf den Fenstersims. Beisler wendet sich wieder um. "Ich habe nie in ihr Handy geschaut", sagt Beisler. 13-Jährige hätten schließlich auch eine Privatsphäre. Danach lässt sie das Thema fallen.
Für Monika Beisler ist das Thema durch
Sie habe Maria verboten, ins Internet zu gehen. Irgendwann habe ihre Tochter angefangen, Witze über Haase zu machen. "Sie hat sagt: ,Mama, der hatte sogar 'ne Glatze und so'n dicken Bauch.' Und ich hab gedacht, das ist ein gutes Zeichen, wenn sie sich lustig macht. Dann ist das Kapitel abgehakt", sagt Beisler. Monate vergehen.
Maria geht zur Schule, trifft sich mit Freundinnen, besucht den Schwimmverein. Für Monika Beisler ist das Thema durch.
Dann verschwindet Maria in der Nacht auf den 4. Mai. "Ich habe die Polizei angerufen und gesagt: Meine Tochter ist weg. Die haben mich sofort gefragt, ob ich glaube, dass das etwas mit Haase zu tun hat, und ich habe gesagt: ,Nein, das glaube ich nicht.' Auf diesen Gedanken kam ich gar nicht", sagt sie. Am nächsten Morgen ist Maria immer noch nicht aufgetaucht. Die Polizei nimmt ihre Personalien auf. Freunde und Bekannte durchkämmen Weingarten auf der Suche nach ihr. Irgendwann sei eine Freundin von Maria heulend die Treppe hochgekommen und habe gesagt, dass sie es jetzt nicht mehr länger aushalte. "Sie sagte: Er hat sie. Der Haase hat Maria", erzählt Monika Beisler. Das sei der Zeitpunkt gewesen, an dem sie erfahren habe, was passiert sei.
Marias Freundin erzählte, dass sich Haase schon öfter mit Maria getroffen habe. Auch zwei weitere Freundinnen von Maria kannten ihn. "Wenn der morgens hier im Hotel war, hat er die Kinder eingesammelt und sie in die Schule gefahren, das war schick. Die Freundinnen waren alle schon bei ihm im Auto", sagt Beisler.
"Man kann von einer gewissen Freiwilligkeit ausgehen." Polizeisprecherin Laura Riske
In der Nacht des Verschwindens sei das ungleiche Paar in einem Hotel im Stadtteil Rieselfeld gewesen. Als die Freundin mitbekommen habe, dass Marias Mutter ihre Tochter suche, habe diese Haase per SMS gewarnt. "16 Stunden waren da schon vergangen. Es tut mir ja leid, aber ich bin wirklich stinkig auf das Mädchen", sagt Beisler. Die Freiburger Polizei bestätigt die Aussagen von Monika Beisler nicht. "Nicht alles kann, darf und muss von der Polizei bestätigt werden", sagt Polizeisprecher Karl-Heinz Schmid. Seine Stellvertreterin Laura Riske sagt: "Die Ermittler nähern sich dem Fall aus der taktischen Perspektive und die Mutter ist eben auf dieser emotionalen Schiene."
Zwischen der Polizei und Monika Beislers kam es immer wieder zu Differenzen. So hat sich Beisler Anfang August beklagt, dass die Polizei sie nicht früh genug über eine heiße Spur unterrichtet habe. Am 13. Juli stellte die Polizei in der polnischen Stadt Gorlice Haases Auto sicher. Auch Haases weißer Schäferhund wurde gefunden. Polizeisprecherin Laura Riske sagt: "Wir hatten die Hoffnung, wir kriegen ihn und können Maria zurückholen."
Gehen wichtige Hinweise in der Masse unter?
Diese Hoffnung zerschlug sich dann. Aus ermittlungstaktischen Gründen habe man die Öffentlichkeit und auch Marias Mutter erst etwas später eingeweiht. Monika Beisler hatte kurz nach Marias Verschwinden die Suche über Netzwerke wie Facebook und einen Blog ausgedehnt. Mehrere Stunden am Tag chattet sie mit den Usern.
Diplompsychologe Karl Theobald von der Opferhilfe Weißer Ring sagt: "Für die Mutter ist diese Situation jetzt schwer auszuhalten. Das Mitteilungsbedürfnis ist in so einem Fall riesig." Die Gefahr sei nur, dass im Netz auch Menschen Kontakt aufnähmen, die sich an dem Leid der Mutter nur ergötzen wollten oder sich dort Personen tummelten, die ihren eigenen pädophilen Neigungen nachgehen wollten. Die Polizei hat andere Sorgen: Sie befürchtet, dass wichtige Hinweise in der Masse untergehen. "Die Hinweise müssen bei uns landen, nicht auf Facebook", sagt Riske. Dass sich die Mutter an die Öffentlichkeit wende und auch auf Facebook und den anderen sozialen Medien sehr aktiv sei, dafür habe sie vollstes Verständnis. Es habe allerdings Zeiten gegeben, in denen der Medienhype den Ermittlungen entgegengelaufen sei.
Momentan gebe es wenige Hinweise aus dem In- und Ausland. Seit der zweiten Pressemitteilung Mitte August seien rund 70 Hinweise eingegangen, die allerdings nirgends hinführten. Im Juli berichteten Augenzeugen, das ungleiche Paar mit Wanderrucksäcken, Isomatten und Zelt gesehen zu haben. Riske sagt: "Laut Augenzeugen lief Maria frei neben ihm her. Er hielt sie nicht fest. Man kann also von einer gewissen Freiwilligkeit ausgehen." Vermisstenfälle gibt es wie Sand am Meer. Das Schwierige an diesem Fall sei die Dauer. "Die Freiwilligkeit über diesen langen Zeitraum hinweg ist ungewöhnlich", sagt Riske. "Wenn in irgendeiner Form Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, kann man davon ausgehen, dass er jetzt weiterhin stattfindet. Wir gehen nicht davon aus, dass ein unmittelbarer körperlicher Zwang ausgeübt wird."
Monika Beisler glaubt, dass ihre Tochter leicht zu manipulieren sei. "Man konnte ihr leicht ein schlechtes Gewissen machen", sagt sie. Auf die Frage, was sie ihrer Tochter sagen würde, wenn jetzt das Telefon klingeln würde, sagt sie: "Ich würde ihr sagen, dass ich nie Ruhe geben werde, dass ich immer weitermachen werde." Dann fährt sie ihren Computer hoch.
Autor: Nadine Zeller
Zum Original