Von der Freiheit des Fliegens und den Tücken der Geschichte. Das 20. Türchen des FR-Adventskalenders.
Das Fach öffnet sich wie ein Tor in die Vergangenheit. Ein leises Knacken, die Spule beginnt sich zu drehen, setzt das Band in Bewegung und dann - Stille. In diese Stille grätschen längst vergessene Ängste: Habe ich die Record-Taste zusammen mit der Play-Taste gedrückt? Frisst der Rekorder das Band und habe ich einen Bleistift griffbereit?
Zum ersten Mal seit gut 20 Jahren spiele ich eine Kassette ab. Damals hatte mir meine Mutter „Die Möwe Jonathan" von Richard Bach geschenkt. Genau das sollte jetzt eigentlich aus den Boxen des geliehenen Kassettendecks ertönen. Es ist verdammt schwierig, im Streaming-Zeitalter einen Kassettenrekorder zu finden, der noch funktioniert. Der nicht vergessen auf einem Dachboden vor sich hinstaubt oder in einem Keller rostet. Ich habe es geschafft - im dritten Anlauf.
Das Kassettendeck meiner alten Stereoanlage: kaputt. Der tragbare Player der Eltern: längst weggeworfen (den Plattenspieler haben sie noch!). Fündig geworden bin ich bei einer Freundin, die manchmal ähnlich anachronistische Züge an den Tag legt wie ich. Ihr Rekorder funktioniert. Hoffe ich. Diese Stille zu Beginn des Bands ist ganz schön lang. War das früher auch schon so? Dann endlich ertönt die weiche, gefühlvolle Stimme von Roland Franck und die Geschichte „Die Möwe Jonathan" beginnt den Höhenflug.
Jonathan fliegt nicht, um des Fressens willen. Jonathan fliegt, um des Fliegens willen. Auch wenn das dem Schwarm, in dem er lebt, denkbar sauer aufstößt, gibt es nichts Schöneres für die junge Möwe, perfekte Pirouetten zu drehen oder beim Sturzflug immer neue Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen. „Ist es denn wirklich so schwer, wie die anderen zu sein?", fragt die Mutter Jonathan. Muss ich das denn?, will ihr mein kassettenhörendes Ich entgegenwerfen, muss dann aber unterbrechen, um die Seite umzudrehen.
Sein Schwarm versteht ihn nicht, verstößt ihn. Doch Jonathan arbeitet eigensinnig weiter an der Flugperfektion, geht seinen Weg und trägt die Einsamkeit als Konsequenz seiner Überzeugung, seiner Freiheitsliebe. Ohne Verbitterung, Hass oder Neid fliegt die Möwe in drei Akten ihren Weg durch die Welt. Das moderne Märchen nimmt seine Hörerinnen und Hörer mit auf die Höhen und Tiefen des Flugs und des Lebens. Inzwischen übrigens auch auf CD.
Richard Bach: Die Möwe Jonathan - Illusionen (CD). Random House Audio, München 2001, 60 Minuten. Gebraucht etwa über Amazon erhältlich.