Moritz Elliesen

Journalist | Internationale Politik und Wirtschaft | Redakteur epd

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Denkmalsturz im Bildungswesen

Über die deutschen Kolonien im heutigen Namibia, Kamerun, Togo oder Tansania hat Samrawit Araya in der Schule nichts gelernt. Auch Gräueltaten wie der von deutschen Schutztruppen verübte Genozid an den Ovaherero und Nama kamen nicht vor - weder im Geschichts- noch im Politikunterricht. „Es ist schade, dass das nicht behandelt wurde", sagt die 39-Jährige, deren Eltern aus Eritrea kommen. Vor allem für Menschen mit Migrationsbiografie sei die koloniale Vergangenheit Deutschlands ein wichtiges Thema.

Auch Teresa Heinzelmann hätte sich eine Auseinandersetzung mit den deutschen Kolonien an der Schule gewünscht. Im Jahr 2014 hat die heute 23-Jährige an einem Gymnasium in Baden-Württemberg Abitur gemacht. Die spanische Kolonialisierung Amerikas und das britische Kolonialreich habe sie zwar behandelt, sagt Heinzelmann. Aber über die deutsche Kolonialvergangenheit habe sie nur wenig gelernt.

Araya und Heinzelmann wollen, dass sich das ändert. Gemeinsam mit einer dritten Mitstreiterin haben sie deshalb eine an das baden-württembergische Kultusministerium gerichtete Petition aufgesetzt. „An den Schulen Baden-Württembergs werden Kolonial- und Migrationsgeschichte unzureichend unterrichtet", heißt es in dem Schreiben. Der Lehrplan solle überarbeitet und die Kolonialgeschichte sowie ihre Auswirkungen bis heute aufgenommen werden.

Inzwischen haben sich Aktivisten aus allen 16 Bundesländern angeschlossen und jeweils eigene Petitionen gestartet. Die Appelle unterscheiden sich im Wortlaut, doch alle fordern eine verpflichtende Thematisierung der deutschen Kolonialgeschichte im Unterricht. Viele Petitionen sehen darin auch einen Beitrag zum Kampf gegen Rassismus. Die Unkenntnis der Kolonialgeschichte führe oft zu Ignoranz und Alltagsrassismus, heißt es etwa in der Petition für Schleswig-Holstein. Mehr als 95.000 Menschen haben die 16 Petitionen bisher insgesamt unterschrieben.

In welchem Umfang Lehrer den deutschen Kolonialismus im Unterricht durchnehmen, ist schwer zu sagen. Studien dazu gibt es nicht. Laut den Lehrplänen für den Geschichtsunterricht muss der europäische Kolonialismus thematisiert werden, aber in keinem Bundesland unbedingt auch der deutsche. Ob das Thema behandelt wird, bleibt den Lehrkräften überlassen. Immerhin wird ihnen in manchen Bundesländern - etwa in Hessen - die Beschäftigung mit der deutschen Kolonie im heutigen Namibia als Beispiel für ein koloniales Herrschaftssystem vorgeschlagen. Dennoch bleibt es auch in Hessen letztlich den Lehrern überlassen, ob sie es aufgreifen. Alternativ können sie auch die britischen Kolonien in Indien oder die antikolonialen Kämpfe in Algerien behandeln.

Bestimmt gebe es engagierte Lehrerinnen und Lehrer, die den deutschen Kolonialismus thematisieren, sagt die Aktivistin Araya. Aber nur auf das Engagement von Lehrenden zu vertrauen, sei nicht der richtige Weg. „Das Thema muss verpflichtend sein." Dabei geht es ihr und ihren Mitstreiterinnen auch darum, dass nicht nur Quellen aus Europa behandelt werden. Alle 16 Petitionen fordern, eurozentrische Perspektiven aufzubrechen und Stimmen aus dem globalen Süden zu Wort kommen zu lassen. „Uns ist wichtig, welche Perspektive geschildert und wessen Geschichte erzählt wird", sagt Heinzelmann.

Eine eurozentrische Sicht auf den Kolonialismus an deutschen Schulen bemängeln auch Bildungsforscher. Deutsche Kolonialgeschichte werde vor allem als ein Aspekt der Außenpolitik im Kaiserreich und Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs behandelt, sagt Patrick Mielke, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung. In der Folge würden etwa die Wechselwirkungen und wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Kolonien und Mutterländern zu wenig thematisiert. Auch spiele die vorkoloniale Geschichte afrikanischer Länder keine Rolle. Insgesamt kämen die Perspektiven der kolonisierten Bevölkerungen kaum vor.

In den Schulbüchern sieht es nicht viel besser aus. Quellen aus den kolonisierten Ländern und der dortigen Bevölkerung seien bis heute eher die Ausnahme, sagt der Historiker Lars Müller, der zum Afrikawissen in deutschen und englischen Schulbüchern promoviert hat. Bis in die 1980er Jahre hätten die meisten Schulbücher den Gewaltaspekt der Kolonialherrschaft ausgeklammert. Erste Quellen von Ovaherero und Nama tauchten seit den 1980er Jahren auf, blieben aber insgesamt eine Ausnahme, sagt Müller. Erst seit 2004 fänden sie sich vermehrt in Schulbüchern. In diesem Jahr entschuldigte sich die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul erstmals für den von den deutschen Schutztruppen verübten Völkermord im heutigen Namibia. „Das gab damals den Anstoß", sagt Müller.

Lehrpläne zu ändern oder Schulbücher umzuschreiben, braucht Zeit. „In Bezug auf den Kolonialismus waren sie kein Vorreiter von Veränderungen", sagt Müller. Erst mit einiger Verzögerung schlügen sich Debatten oder Proteste in Bildungsmaterialien oder -plänen nieder. Das wissen auch die Aktivistinnen Araya und Heinzelmann. Die Black-Lives-Matter-Demonstrationen und die Proteste gegen koloniale Denkmäler hätten sie inspiriert, sagt Heinzelmann. Ihre Petition sei ein Versuch, die Impulse der Bewegung aufzugreifen - damit künftige Generationen in der Schule etwas über die koloniale Vergangenheit Deutschlands lernen.

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