Einen Monat nach dem verheerenden Erdbeben ist Haiti aus den Schlagzeilen verschwunden. Die ersten Helfer kehren aus dem Krisengebiet zurück. Im FR-Interview spricht Peter Mucke über die psychische Belastung der Helfer und die Selbsthilfe der Haitianer.
Herr Mucke, wie geht es den Helfern, die in den vergangenen vier Wochen in Haiti waren?
Die Helfer müssen ebenso wie unsere haitianischen Partner vor Ort einen unwahrscheinlich hohen Arbeitseinsatz leisten. Selbst für erfahrene Entwicklungshelfer ist die Zeit in Haiti ein extrem schwieriger Einsatz: großes menschliches Leid, unvorstellbare Zerstörungen, chaotische Zustände, und hinzu kommt die Anspannung, ob die Sicherheitslage in der Hauptstadt stabil bleibt. Das Erdbeben hat ein Land getroffen, das schon vor der Katastrophe bitterarm war. Angesichts all dieser Umstände geht es den zurückgekehrten Helfer recht gut. Das liegt vor allem daran, dass erfahrene Kolleginnen und Kollegen in Haiti sind bzw. waren, die schon in anderen Katastrophen Hilfe geleistet haben. Sie kennen daher solch schwierige Situation und sind innerlich darauf vorbereitet.
Brauchen die zurückkehrenden Helfer nicht auch selbst Hilfe?
Die Erlebnisse sind sehr belastend, für die betroffenen Menschen und für die Helfer. Wenn man vor Ort spürt, wie sehr man gebraucht wird, stellt sich oft das Gefühl ein, nicht nachlassen zu dürfen, immer weiter machen zu müssen. Wir achten drauf, dass die Einsätze zeitlich begrenzt sind und dass die Helfer sich gegenseitig ablösen. Wichtig ist, dass ein kompetenter Ersatz geschickt wird, wenn ein Mitarbeiter sich die dringend nötige Auszeit zum Regenerieren nimmt. Nach der Rückkehr erhalten die Kolleginnen und Kollegen psychologische Begleitung oder Unterstützung durch Trauma-Experten, wenn sie das möchten. Einige nehmen dieses Angebot wahr.
Wie viele Ihrer Mitarbeiter sind weiter vor Ort, und auf welche Aufgaben konzentrieren sie sich jetzt?
Unsere fünf Hilfsorganisationen setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Terre des Hommes kümmert sich zusammen mit lokalen Partnern um traumatisierte Kinder. Viele haben Schreckliches gesehen und durch das Beben Angehörige verloren, sie brauchen psychologische Betreuung. Mitarbeiter von Medico engagieren sich im Gesundheitsbereich, bauen unter anderem Prothesenwerkstätten mit auf. Die Welthungerhilfe kümmert sich um die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Saatgut. Brot für die Welt organisiert rechtzeitig vor dem Beginn der Hurrikan-Saison die Errichtung von sturmsicheren Zelten - noch immer leben zehntausende Menschen in notdürftigen Unterkünften aus Decken, Plastikplanen und Kartons. Misereor hilft dabei, ein zerstörtes Zentrum für Straßenkinder wieder aufzubauen, und vermittelt Kenntnisse über erdbebensicheres Bauen.
In den ersten Tagen nach dem Beben fehlte es vor allem an Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung. Ist diese Situation inzwischen besser geworden?
Die Versorgung mit Trinkwasser und Lebensmitteln muss noch fortgesetzt werden, aber die Situation hat sich in vielen Stadtteilen von Port-au-Prince und den anderen betroffenen Orten verbessert. Die medizinische Versorgung der Erdbebenopfer wird noch lange erforderlich sein. Dabei ist es zum Beispiel wichtig, durch entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen verletzungsbedingte Behinderungen zu vermeiden.
Die Verteilung von Hilfsgütern gestaltete sich anfangs schwierig, Ihre Kollegin Simone Pott von der Welthungerhilfe sprach von einem "logistischen Albtraum". Wo lagen die größten Probleme?
Keine Fahrzeuge, kein Sprit, keine sicheren Lagerkapazitäten, dazu Straßen, die teilweise stark beschädigt oder durch Trümmer blockiert waren. In einem Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, ein riesengroßes Hilfsprogramm durchzuführen - darin liegt das zentrale Problem.
Nach der Tsunami-Katastrophe standen Hilfswerke wegen mangelnder Koordination in der Kritik. Welche Lehren haben Sie daraus gezogen?
Die Koordination der internationalen Hilfsmaßnahmen ist trotz der schwierigen Bedingungen und des Ausmaßes der Katastrophe erstaunlich schnell aufgebaut worden. Alle Organisationen, die sich auf einem bestimmten Arbeitsfeld engagieren - Hilfsgüterverteilung, Gesundheit, Landwirtschaft - können sich bei Sektorentreffen vernetzen und ihre Aktionen aufeinander abstimmen. Koordiniert wird dieser regelmäßige Informationsaustausch von den Vereinten Nationen.
Die Hauptstadt Port-au-Prince stand zumeist im Mittelpunkt der Berichterstattung. Wie ist die Lage in den ländlichen Regionen des Landes?
Der Norden und Osten von Haiti ist längst nicht so stark betroffen wie die Hauptstadt und die Orte nahe dem Epizentrum. Allerdings ist ein Teil der Zufahrtsstraßen dorthin zerstört. Die Landwirtschaft ist in den meisten ländlichen Regionen weitgehend intakt - doch weil die vielen Flüchtlinge diese Gebiete jetzt sehr viel stärker bevölkern, reicht die Versorgung nicht. Hinzu kommt, dass manche Wasserquellen durch die Erdbewegung versiegt und Quelleinfassungen zerstört sind. Die Welthungerhilfe kümmert sich um die ländliche Entwicklung und trifft erste Maßnahmen, um die Bewässerungsmöglichkeiten schnell wieder herzustellen.
Die Bevölkerung Haitis hat erste Nothilfe geleistet und an vielen Stellen Selbsthilfe organisiert. Die Medien zeigen aber vor allem Bilder von tatkräftigen internationalen Helfern
Eine Zeitung druckte das Bild eines Deutschen Schäferhundes ab, der nach Verschütteten suchte. Was man auf dem Foto nicht sah, waren die Haitianer, die bei der Bergung halfen. Diese Menschen haben Unvorstellbares geleistet: Tausende von ihnen haben tagelang nichts gegessen und stattdessen ihre Nachbarn aus den Trümmern gebuddelt. Die Haitianer sind nicht hilflos, sie waren die ersten, die nach dem Unglück zur Stelle waren. Und sie sind diejenigen, die bleiben. Die Helfer sind irgendwann wieder weg. Unser Bündnis versucht deshalb, die Einheimischen in Hilfsprojekte mit einzubeziehen, sie mit in die Verantwortung zu nehmen.
Wie zum Beispiel?
Die Welthungerhilfe greift, wie andere Organisationen auch, bei der Verteilung von Lebensmitteln auf die Unterstützung lokaler Komitees zurück. Die Menschen vor Ort wissen am besten, wer Hilfe am nötigsten hat: Alleinerziehende, Schwache, Kranke - eben jene, die den Kürzeren ziehen, wenn man Hilfsgüter einfach nur per Hubschrauber abwirft. Neben konkreten Gütern brauchen die Einheimischen aber vor allem auch Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. In den von Medico geplanten Prothesenwerkstätten werden Haitianer ausgebildet, und im Rahmen des Programmes "Cash for work" bezahlen die Hilfswerke im Bündnis einheimische Helfer für ihre Arbeit bei der Bergung von Opfern und Räumung der Trümmer.
Bekommen Sie inzwischen mehr Unterstützung durch die haitianischen Behörden?
Die Zusammenarbeit mit den haitianischen Behörden ist vor allem in der Hauptstadt weiterhin unglaublich schwer. Es war schon vor dem Erdbeben oft nicht klar, wer Ansprechperson ist, wer Initiativen ergreift oder wer Entscheidungen trifft. Das ist nach der Katastrophe nun nochmal um ein Vielfaches schwieriger. Aber es gibt auch andere Beispiele: In Jacmel funktioniert die Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden recht gut. Und in vielen Orten und Stadtteilen haben lokale Komitees eine ganz wichtige Rolle der Selbstorganisation übernommen.
Langfristig stabile Strukturen in Haiti - ist das eine realistische Hoffnung?
Als Hilfsorganisationen können wir dazu beitragen, dass unsere Projektpartner eine starke Selbstorganisation aufbauen. Aber wir haben nicht das Mandat , für eine funktionierende Regierung zu sorgen.
Interview: Monika Gemmer