1 Abo und 2 Abonnenten
Artikel

Buchmesse - Junge Literatur: Kaputtes Kinderbuch

Foto: Monica Camposeo

Die Frankfurter Buchmesse ist eine Welt für sich, eine Stadt in der Stadt, in der Mauern aus Büchern gemacht sind und der Herbstwind Lesezeichen von den Bäumen weht. Eine fantastische Welt, deren bunteste Ecke für die Jüngsten reserviert ist. Das Zentrum der Kinder- und Jugendliteratur befindet sich in Halle 3. Bereits bei den ersten Schritten in das „Kids-Universum", wie diese Halle auf der Internetseite der Buchmesse genannt wird, eröffnet sich eine alternative Realität, eine Welt, in der die Buchdeckel aus rosafarbenem Plüsch sind und Regenbogenfische reden können. Das Schönste dabei: Fantasievolle Charaktere, egal ob menschlich oder tierisch, beherrschen in Halle 3 besonders viele Sprachen. Es gibt Kinderbücher auf Farsi, Liebesromane für Jugendliche auf Italienisch oder eine ganze Wand voller Bücher auf Kroatisch. Doch auch in den Hallen 5 und 6, die den internationalen Verlagen gewidmet sind, stellen insgesamt 290 Stände ihre Kinder- und Jugendbuchprogramme vor. Das Geschäft floriert. Auch im Zeitalter von virtueller Realität und kurzweiligen Snapchat-Nachrichten lesen Kinder noch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke.

Zeichnungen und Seenotrettungen

Bei den Themen wird durchaus auch die aktuelle gesellschaftliche Lage angesprochen. Auf dem „Kids-Stage" lesen Gaby von Borstel und Peter Eickmeyer aus ihrer neuen Graphic Novel mit dem Titel „Liebe deinen Nächsten". Durch Wort- und Bildkunst wollen sie ein Bewusstsein schaffen für das Drama im Mittelmeer. Drei Wochen lange haben sie an Bord des Rettungsschiffs MS Aquarius den Einsatz der Rettungshelfer begleitet. In ihrer Graphic Novel erzählen sie, wie eine Seenotrettung abläuft, vom Schlauchboot im Mittelmeer bis zur Registrierung. Das Buch sei nicht nur für Kinder, auch Erwachsene könnten von „Liebe deinen Nächsten" etwas lernen, betont Peter Eickmeyer auf Nachfrage. Die Idee kam, weil auch die Jüngsten mitbekommen, dass sich viele Menschen über das Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen. „Wir wollen den Geflüchteten ein Gesicht geben, damit die Kinder nicht nur die Zahlen und Bilder aus den Fernsehnachrichten haben." Eine hoch politische Thematik, die kindgerecht erklärt, was Geflüchtete auf ihrer Reise nach Europa auf sich nehmen.

Brücken zwischen den Kulturen

Es muss nicht immer politisch und aktuell sein. Die Organisation IBBY (International Board on Books for Young People) setzt sich weltweit für die Verbreitung von Kinderbüchern ein. Der französische Ableger arbeitet an einem Projekt, das arabischsprachige Kinderbücher auswählt, um sie sowohl in Originalsprache, als auch übersetzt nach Europa zu bringen. Für Kinder, die in Frankreich mit der arabischen Sprache aufwachsen, sei es wichtig, Kinderliteratur in ihrer Muttersprache zu finden. Hasmig Chahinian von IBBY France unterstreicht, dass das Thema der Erzählung bei der Auswahl keine große Rolle spielt. „Wir müssen Kinder Kinder sein lassen. Es geht uns um eine nette Geschichte und weniger um einen besonders pädagogischen Inhalt." Die gestalterische Qualität des Buches sei bei der Auswahl eher von Bedeutung, so Chahinian auf dem Podium. Das Projekt möchte das Zusammenleben zwischen verschiedenen Kulturen in Frankreich fördern. „Mit Übersetzungen werden Brücken zwischen den Kulturen gebaut. Kinder sehen in der Bibliothek, dass es das Buch, das sie gerade lesen, auch auf Farsi oder Paschtu gibt. Das setzt alle Sprachen auf dasselbe Niveau. Alle Kinder können zusammen in die Bibliothek gehen und werden dort fündig", sagt Hasmig Chahinian.

Wo bleibt die Vielfalt?

Auch in Deutschland wachsen Kinder schon lange nicht mehr nur mit deutscher Muttersprache auf. Neben einem mehrsprachigen Sortiment sollte eine vielfältige Gesellschaft auch in den Illustrationen und Erzählungen repräsentiert werden. Deshalb hat sich der Börsenverein am Freitagnachmittag in der Diskussionsrunde „Afrika-Bilder in der deutschsprachigen Kinderliteratur" die Frage gestellt, welche Vorstellungen Kinderbücher vom afrikanischen Kontinent vermitteln. Die Antwort ist kurz: Fast gar keine.

Das Problem ist komplex, wie der interdisziplinäre Künstler Philipp Khabo Koepssel auf dem Podium erklärt: „Meine Tochter ist in Deutschland geboren, genauso wie ihre Eltern. Per Definition hat sie nicht mal mehr einen Migrationshintergrund. Und trotzdem kann sie sich mit den Figuren in den deutschen Kinderbüchern nicht identifizieren, weil diese alle Weiß sind und dementsprechend nicht so aussehen wie sie. Meine Tochter ist Deutsche, aber es gibt keine deutschen Bücher für sie."

Sonja Matheson vom schweizerischen Verlag Baobab Books kann das Problem bei der Diskussionsrunde nur bestätigen. Der Verlag stellt jährlich eine Liste mit empfohlenen Büchern vor, die die kulturelle Vielfalt thematisieren. Die aktuelle Ausgabe beinhaltet 58 Bücher, davon seien jedoch nur drei über Afrika. Schwarze Kinder werden fast gar nicht repräsentiert. Wenn sich Bücher mit diesem Kontinent auseinandersetzen, bedienen sie meist die gängigen Klischees. „Es gibt keine zeitgenössischen Bilder von afrikanischen Großstädten", beklagt Sonja Matheson. In Verbindung mit Afrika werden in den meisten Fällen die Natur, die wilden Tiere oder die Tradition in den Vordergrund gerückt. Dieses sehr einseitige Afrika-Bild steht dann dem Bild von modernen Großstädten und Technik in Europa gegenüber. Die Moderatorin Michaela Schmitt-Reiners vom Verband Binationaler Familien und Partnerschaften spricht von einem Bildungsauftrag und schlägt vor, dass mehr Geschichten in Luanda, Lagos oder Kapstadt spielen sollten. Denn Afrika wird auch stets als Ganzes gesehen und die Differenzierung in einzelne Länder, wie es für den Rest der Welt üblich ist, findet nur selten statt.

Wer lange sucht, kann nichtsdestotrotz ein paar gute Bücher finden - allerdings selten bei den großen Verlagen. „Ich verstehe nicht, warum die etablierten Verlage ihr Sortiment nicht erweitern wollen. Außer aus kapitalistischen Gründen natürlich. Das wiederum wäre sehr traurig für unsere Gesellschaft", bedauert Philipp Khabo Koepssel.

Wir brauchen mehr Normalität

Unschön ist auch dieses Phänomen: Schwarze Kinder oder Mädchen mit Kopftuch werden meist nur in Verbindung mit Problemen oder negativen Ereignissen thematisiert. Warum gibt es keine Erzählungen aus dem Schulalltag einer Heldin, die ein Kopftuch trägt? Bücher sollten Kindern ein Bild der Gesellschaft zeigen, in seiner ganzen Diversität, und nicht nur eine Idee von der Gesellschaft, die viele vielleicht noch von früher in ihren Köpfen haben. Tauchen beispielsweise Menschen aus dem arabischsprachigen Raum ausschließlich in Geschichten und Bildern über Flucht auf, setzt sich in unseren Köpfen die unmittelbare Verbindung zwischen „aus dem arabischen Raum stammen" und „Flucht" fest, so dass wir dann denken, alle Menschen aus dem arabischen Raum seien Geflüchtete, was ja eindeutig nicht der Fall ist. „Wir sollten das zeigen, was uns verbindet, den Alltag, die Sorgen oder Freuden des Lebens. Und nicht, was uns trennt", empfiehlt Sonja Matheson vom Verlag Baobab Books.

Die Branche ist im Umschwung, das zeigen die diesjährigen Programme im „Kids-Universum". Es gibt noch viel zu tun, damit Kinderbücher in Zukunft nicht nur außen, sondern auch innen bunter werden.

Dieser Beitrag ist entstanden im Rahmen des Buchmessen-Projekts „Unter Dreißig" mit Kulturjournalismus-Studierenden der Universität der Künste Berlin.
Zum Original