Wir leben in einer hoch politischen und politisierten Welt. Einer Welt, in der wir Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen. Weil das für unsere heutige Politik profitabler ist, als zigtausende Menschen zu retten und in unsere Länder aufzunehmen. Am frühen Samstagmorgen konfrontiert der französische Schriftsteller Patrick Chamoiseau das Publikum mit harten Thesen. In seinem Roman „Migrantenbrüder", auf Französisch unter dem Titel „Frères migrants" erschienen, stellt er ein Manifest der Menschlichkeit und Empathie vor, appelliert an die humanité, erinnert an die tödlichen Grenzen, an denen bereits viel zu viele Menschenleben verloren gegangen sind und kritisiert die aktuelle Politik als barbarie du néolibéralisme, die ganz einfach nicht mit dem Elend von Außenstehenden und dem damit verbundenen Zuwanderungsstrom gerechnet hat. Ein System, das nur funktioniert, solange alle Rädchen ineinanderpassen und wie geschmiert rotieren. Haben Systeme dieses Phänomen nicht generell so an sich? Chamoiseau gerät in Fahrt und es ist, als würden Funken aus ihm schlagen, die auf die anderen Autoren überspringen.
Ein richtiges Streitgespräch kommt allerdings nicht auf. Die Teilnehmenden Nancy Huston, Kamel Daoud, Alain Damasio, Gaël Faye, Patrick Chamoiseau und Hans Thill sind sich einig, dass wir handeln müssen, um Mitmenschen aus dem unbeschreiblichen Leid zu helfen. Es scheint, als verkörperte jeder der Anwesenden eine Rolle.
Die Besonnene
Nancy Huston verteufelt sämtlichen westlichen Luxus, spricht von verseuchten Kleidern, fährt fort mit den Ölkriegen, die uns günstiges Benzin für unsere Verkehrsmittel verschaffen und endet schließlich bei der Klimaerwärmung, die Naturkatastrophen und Dürren mit sich bringt. Und wer ist schuld an alledem? Die westliche Welt. „Es gab schon immer arme und reiche Menschen auf diesem Planeten", so Hustons erster Satz, „was jetzt neu ist, ist, dass wir am universellen Horror schuld sind." Ihren Beitrag für diese Veranstaltung hat sie sorgfältig vorbereitet und trägt ihn am Rednerpult vor.
Der Transgressive
Kamel Daouds Antwort auf die Geflüchtetenfrage ist weitaus kritischer und durchaus polemischer als das Pathos von Chamoiseau und der geschliffene Text von Huston. Er wirft die Frage auf, warum Menschen, die nach Europa flüchten, „alle nach Deutschland wollen und nicht nach Saudi Arabien". Seine zentrale Frage in der aktuellen Problematik ist: „Warum verlassen Menschen ihr Land?" Immer wieder betont er, dass der Weg aus dem Elend, aus Krieg und Hungersnot, seiner Meinung nach nicht bedeute, dass diese Menschen in die Opferrolle gedrängt werden sollten. Das Verlangen nach Freiheit müsse auch mit der Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben des neuen Zuhauses einhergehen. Daoud ist bekannt für seine provokanten Aussagen. In der Zeitung Le Monde wurde er letzten Monat als „der Transgressive" betitelt. Wer ihn kennt, weiß, dass er gerne eine bildhafte Sprache benutzt. Und hat er mal eine gute Metapher gefunden, verwendet er sie gerne mehrmals. Auch er kritisiert die politische Lage und stellt fest, dass das in der Gesellschaft wachsende Verlangen nach geschlossenen Grenzen keine Lösung sein darf. Denn: „Wer die Türen schließt, wird früher oder später aus den Fenstern schießen."
Der Authentische
„Literatur ist das, was uns bleibt, wenn wir uns Geld und Macht, den Ursprung des Übels, wegdenken." Gaël Faye stützt sich auf Huston und sagt weiter: „Jede Art des Konsums ist problematisch, aber der Westen ist auch nicht an allem schuld." Was sich ändern müsse, sei vielmehr unsere Mentalität. Er erzählt von Ruanda, woher seine Mutter stammt. In dem kleinen ostafrikanischen Land seien zurzeit sehr viele burundische Flüchtlinge und für die Ruander stelle dies kein Problem dar. „Aber wenn in Frankreich 10 000 Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, wird das schon zur medialen Zerreißprobe", so Gaël Faye kopfschüttelnd.
Das Publikum hört sichtlich interessiert zu. Ja, es lohnt sich, einen genaueren Blick auf den Platz des Einzelnen in unserer Welt zu werfen. Wer sind die Ausbeuter, wer die Ausgebeuteten? Warum gibt es Kriege und warum kommen Menschen zu uns? Wie sähe eine Welt aus, in der wir alle in Frieden miteinander leben können? Universelle Fragen auf die niemand durch bloßes Reflektieren eine Lösung weiß. Abschließend wird noch eine „Erklärung der Dichter", eine Liste mit Botschaften von den anwesenden Autoren an die Menschheit, verlesen. Ob diese vielen messages ausreichen, um unsere Welt zu verbessern, bleibt fraglich.