Linda* machte gerade ihr Abitur, da wurde ihre Mutter mit 60 Jahren pflegebedürftig. Das war 2010. Inzwischen sind die Auswirkungen der Herz- und Niereninsuffizienz, sowie einer chronischen Lungenerkrankung so stark, dass sie größtenteils bettlägerig ist. Linda beginnt nach dem Abitur ein Chemiestudium an der Ruhr-Universität Bochum. Da sich das zu diesem Zeitpunkt nicht gut mit der Pflege vereinbaren lässt, wechselt sie bald an die Universität Duisburg-Essen (UDE), wo sie nun Kulturwirt studiert. „Wenn Mama Hilfe brauchte, war es eben schwierig mal in die Bibliothek zu fahren, weil dann ja niemand zu Hause war", erinnert sich die heute 25-Jährige an die Anfänge ihres Studiums.
Inzwischen läuft es zwar besser - auch, weil Lindas Mama seit ungefähr vier Jahren einen Pflegegrad hat und damit Hilfe erhält - die ständige Sorge und das stetige Koordinieren von Pflegeaufgaben, Freizeit und Studium sind trotzdem allgegenwärtig. Besonders das vergangene Jahr war eine Zerreißprobe. „Meine Mutter lag acht Monate im Krankenhaus auf der Intensivstation. Und bei jedem Handyklingeln dachte ich, das ist jetzt der Anruf, wo man mir sagt, dass sie tot ist", sagt Linda. Anwesend ist die Studentin in den Seminaren oft höchstens physisch. Das ist besonders in solchen, wo mündliche Mitarbeit gefordert ist oder Anwesenheitspflicht herrscht, fatal. „Es ist unglaublich nervenaufreibend, man kann sich schlecht konzentrieren. Wenn man die ganze Zeit im Hinterkopf den Gedanken hat, dass du das ‚Fahr vorsichtig' am Morgen zum letzten Mal gehört haben könntest", bricht Lindas Stimme.
Junge Pflegende finden kaum BeachtungWie vielen Studierenden es wie Linda erging oder noch ergeht, lässt sich nur vermuten. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Benjamin Salzmann, Vorstandsmitglied von wir pflegen, einer bundesweiten Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland, hat dafür zum Teil eine Erklärung: „Meistens wird Pflege öffentlich als etwas wahrgenommen, das alte oder mittelalte Menschen für alte Menschen machen", erklärt er.
Obwohl ihr 55 Jahre alter Vater als Hauptpfleger eingetragen ist, muss auch Linda viel Zeit in die Pflege ihrer Mutter investieren. Zusätzlich geht sie arbeiten. Freizeit hat sie kaum. Auch den Gedanken an ein Auslandssemester verwirft sie schnell wieder. Acht Stunden pro Woche sei sie für die Pflege eingetragen - es sind wohl einige mehr. Das liegt auch daran, dass Haushaltstätigkeiten wie Kochen oder Putzen nicht zur Pflegezeit zählen, „weil es quasi eine Art Luxusgut ist", erklärt Linda. „Duschen mindestens drei Mal die Woche, Haare waschen, wunde Stellen pudern, den Katheter von der Bauchfelldialyse neu verbinden", listet sie die Aufgaben auf. Jeder Handgriff sei dabei eine strenge Routine. „Wenn da irgendwas schief geht - jede kleine Infektion kann sie umbringen", sagt sie.
Dieser Druck wirkt sich auch auf ihre Studienleistungen aus. Noten werden schlechter, das Studium verlängert sich. Der Unialltag wird zur Nebensache. Im vergangenen Jahr kann Linda nicht mehr. „Ich habe viele Nächte da gesessen und Rotz und Wasser geheult, weil ich nicht wusste wohin", sagt sie. Sie bekommt Panikattacken beim Zusammenstellen ihres Stundenplans. Alles muss auf die Pflegezeit mit ihrer Mama abgestimmt sein. Sie schreibt der psychologischen Beratung der UDE. Erklärt ihre akute Lage. Die Antwort: Erst in vier Monaten wäre ein Termin frei. „Da denkt man, dass mir offenbar keiner helfen will", stellt Linda ernüchtert fest.
Beratungsstellen an Universitäten sind dürftigGenerell ist das Beratungsangebot an Universitäten und Hochschulen in Deutschland für Menschen wie Linda eher gering. Oft gelangt man erst über mehrere Stationen an geeignete Ansprechpartner*innen, muss von einer Stelle zur nächsten, je nachdem um welchen Bereich im Studium - Prüfungsordnung, Beurlaubung, finanzielle Unterstützung - es sich konkret handelt. Ein zusätzlicher Stressfaktor für ohnehin schon gestresste Studierende. Während es für Studierende mit Kind meist Angebot gibt fehlt dies an den meisten Unis für Studierende mit Pflegeverantwortung.
„Es gibt zwar an den Unis Familienbüros, die das Thema Pflege dann auf dem Schirm haben - aber eher für Angestellte der Uni, nicht für Studierende", urteilt Benjamin Salzmann von wir pflegen. Er habe es sowohl erlebt, dass junge Menschen ihr Studium aufgrund der Pflege abbrächen, als auch, dass sie sich dafür entschieden, ein Studium gar nicht erst aufzunehmen. Manche bekämen zwar einen Studienplatz, aber nicht in der Nähe ihres Heimatortes, den sie wiederum nicht verlassen könnten - da sie die Pflege koordinieren müssten. Auch Versuche per Härtefallregelung an die Uni zu kommen, scheiterten oft, „weil die Regeln der Uni nicht darauf ausgelegt waren, dass die Pflege eines Angehörigen auch ein Härtefall sein kann", so Salzmann.
Linda hat ihr Studium noch nicht aufgegeben. Ihre Mutter in ein Pflegeheim zu geben, war für sie nie eine Option. „Für mich würde es sich egoistisch anfühlen, wenn ich sie einfach wegschubsen würde", sagt die Studentin, und ergänzt: „Und wenn es dauert bis ich 40 bin, ich würde es die ganze Zeit machen. Ohne Zucken, ohne Murren".
*Namen von Redaktion geändert