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"Wir wollen keinen Krieg, wir wollen reden!"

Viele muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen mit Vorurteilen gegenüber Jüd*innen auf - meist geprägt durch die Erfahrungen oder Vorurteile ihrer Eltern sowie durch den Nahost-Konflikt. Um dem etwas entgegen zu setzen, organisiert die Initiative HeRoes aus Duisburg-Marxloh mit interessierten Jugendlichen regelmäßig Fahrten in das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz. Die Gedanken, Gefühle und Zwiespälte, denen die jungen Männer* dort begegnen, haben sie zu Papier gebracht - und ein Theaterstück daraus entwickelt.

„Was ist die Wahrheit?", fragt ein junger Mann ganz verzweifelt in die Runde, doch keiner hat eine Antwort für ihn. Der Mann ist innerlich entzweit - er steht zwischen den Ansichten seines muslimischen, antisemitischen Vaters und der Wahl, sich selbst ein Bild zu machen von Jüd*innen in der arabischen Welt. Ja, ´ welche Wahrheit ist die richtige? Gibt es überhaupt eine solche Wahrheit? Und wie unterscheidet man zwischen richtig und falsch? Das sind die Fragen, die ihn beschäftigen. Schon von klein auf wird dem jungen Mann Jüd*innenhass förmlich eingebläut, Jüd*innen seien Kreaturen sagt ihm sein Vater. Kreaturen, die ihm sein Land wegnehmen möchten, ein angestrebtes geeintes Arabien. Sie seien Feinde, die ausgerottet werden müssten, um das Land zu schützen. Er hinterfragt nicht, sondern tut das, was sein Vater ihm aufträgt. Er tötet Jüd*innen, wenn er muss.

Doch dann begegnet er einem jungen Juden, der ihn wachrüttelt - „Es ist doch genug Platz für uns alle da", sagt ihm dieser - und er beginnt zu zweifeln. Er entscheidet sich dazu, seinen Hass zu überwinden - und das obwohl er weiß, dass sein Vater diese Entscheidung nicht akzeptieren wird. Es ist eben jener Generationenkonflikt, der in dem Theaterstück Junge Muslime in Auschwitz der HeRoes-Theatergruppe Coexist aus Duisburg im Vordergrund steht. Es geht darum, wie Hass und Vorurteile von einer Generation auf die nächste übertragen werden. Es geht aber auch um Zivilcourage, um Verantwortung für die eigenen Taten und darum, wie sich junge Muslim*as in der heutigen Gesellschaft mit Antisemitismus und Nationalismus auseinander setzen. Während des gesamten Stückes setzen sich die Jugendlichen mit der Gewalt und der systematischen Vernichtung von jüdischen Menschen auseinander.

Gegen Vorurteile und gegen Rassismus Bereits seit 2011 organisieren die HeRoes in Kooperation mit dem Verein Offene Jugendarbeit aus Duisburg fast jährlich Gedenkstättenfahrten nach Auschwitz, um das ehemalige Konzentrationslager zu besuchen. Unter der Begleitung von Gruppenleiter Burak Yilmaz setzen sich junge Männer* zwischen 16 und 27 Jahren mit arabisch-, türkisch- und kurdischsprachigen Hintergrund intensiv mit den Verbrechen der Nazis an Jüd*innen auseinander. „Wir als Muslime in Deutschland sollten uns endlich dem Thema Antisemitismus in unserer eigenen Community stellen", erklärt Yilmaz den Ansatz der Gedenkstättenfahrt. Denn der Zugang zum Antisemitismus erfolge bei den Jugendlichen meistens ausschließlich durch den Nahost-Konflikt: „Da gibt es ganz starke Vorbehalte und Vorurteile gegen Jüd*innen, gegen Israelis. Man sieht sie als Feind an und sich selbst in einer Opferrolle", so Yilmaz.

Viele der Jugendliche haben Eltern oder Großeltern, die selbst verfolgt wurden und deshalb nach Deutschland geflohen sind. Für sie bedeutet die Fahrt nach Auschwitz auch, sich mit widersprüchlichen Gedanken, inneren Konflikten und allen voran der eigenen Identität auseinander zu setzen. Auch für Mohammed, der in dem Stück den Vater spielt, war die Fahrt nach Auschwitz wichtig, um sich seiner eigenen Identität neu anzunähern. Als in seiner Schule eine Auschwitz-Fahrt stattfand und er nicht einmal gefragt wurde, ob er daran teilnehmen wolle, fühlte er sich ausgeschlossen: „Damals ging es mir nicht darum, was über die deutsche Geschichte zu lernen, mir ging es darum etwas zu sehen, was normalerweise die ‚Deutsch-Deutschen' sehen und ich wollte wissen, was das ist und was sie fühlen", sagt er, und fügt hinzu: „Ich möchte, dass jeder Mensch in Deutschland in der Schule die Möglichkeit hat, nach Auschwitz zu fahren. Ich möchte nicht, dass mein Kind, wenn es mal so alt ist wie ich damals, sich auch ausgeschlossen fühlt." Es ist ein Gefühl, das Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland oftmals teilen. In vielen Schulen, wo HeRoes Workshops anbietet oder das Theaterstück aufführt, würden sich Schüler*innen, obwohl sie in Deutschland geboren sind, immer noch als Ausländer*innen fühlen. Aus der Fremdzuschreibung ‚Ausländer*in' werde irgendwann die Selbstzuschreibung ‚Ausländer*in'.

Neue Perspektiven - neue Identität? „Das erste Mal, dass wir nach Auschwitz gefahren sind, ist etwas ganz Interessantes passiert. Diese Jungs, die in Deutschland nie als Deutsche wahrgenommen werden, sind in Auschwitz ausgerechnet das erste Mal als Deutsche wahrgenommen worden. Und das hat die Jungs so aufgewirbelt, weil man auf einmal eine ganze andere Perspektive auf seine Identität bekommen hat", erläutert Projektleiter Yilmaz. Daraufhin habe man beschlossen, dass das Thema künstlerisch aufgearbeitet werden müsse und auf die Bühne gebracht werden sollte. Bei der Auschwitz-Fahrt 2014 führten die Jugendlichen dann eine Art Gruppentagebuch, in dem sie ihre Gedanken festhalten konnten. Diese Niederschriften dienten als Basis für das Stück, das im Anschluss der Fahrt zusammen mit Theaterpädagogin Martina Gerber geschrieben und in Szene gesetzt worden ist. Die Premiere fand in der jüdischen Gemeinde in Duisburg statt. „Unser Ziel ist: Wir wollen über Identität sprechen. Wir wollen zeigen, dass es total okay ist gleichzeitig deutsch und türkisch oder was Anderes zu sein, wenn man sich überhaupt so identifizieren möchte. Unsere Aufgabe ist auf jeden Fall zu zeigen, wie vielfältig Identität ist und dass diese Vielfältigkeit sehr wichtig ist", sagt Yilmaz. Mit dem Stück soll ein neues, verbessertes Bewusstsein für Antisemitismus geschaffen werden. Vor allem in Zeiten von rechtsradikalen Strömungen in ganz Europa: „Wir wollen einer schweigenden Minderheit die Stimme geben und einen Gegenwind aufzeigen, gegen Rassismus, gegen Krieg", ergänzt Mohammed.

Bisher hat die Gruppe ihr Stück in zahlreichen Bildungseinrichtungen, Schulen, sowie in Kirchen und Synagogen aufgeführt. Auch wenn insbesondere einige Schüler*innen zum Teil schockiert reagiert hätten, sei der Zuspruch generell sehr hoch. Bald soll auch eine Aufführung in einer Moschee stattfinden. Im kommenden Monat geht es dann das erste Mal auf eine große Schauspielbühne, nämlich in das Neue Schauspiel nach Leipzig. Auch da soll die Botschaft am Ende des Abends heißen: „Wir wollen keinen Krieg - wir wollen reden!"

Info: Die Initiative ist ein Gleichstellungsprojekt von Jungs e.V., die sich für ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Männern* und Frauen* engagieren und sich mit Themen wie Gleichberechtigung, Ehre und Menschenrechten auseinandersetzten. Sie fordern eine Gesellschaft, in der jeder, unabhängig von Geschlecht und kulturellem Hintergrund, die gleichen Möglichkeiten und Rechte hat. Mit dieser Message gehen sie an Schulen und in Bildungseinrichtungen, um für eine friedlichere und gerechtere Gesellschaft zu werben und um Lösungsansätze zu erarbeiten.

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