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Gefangen ‖ Gefoltert ‖ Geflohen

Seit dem 15. Juli 2016 befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand: Seit dem Militärputsch spaltet Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Land mehr denn je. Während viele Anhänger*innen des AKP-Chefs das harte Vorgehen gegen Regierungskritiker*innen begrüßen, sehen sich diese oftmals gezwungen aus dem Land zu fliehen, um Haftstrafen und Folter zu entgehen. Nicht allen gelingt das. Unter dem Titel „Verfolgt - Gesichter des Ausnahmezustandes" werden in einer Foto-Ausstellung in Duisburg noch bis zum 10. November zwölf Einzelschicksale von Menschen porträtiert, deren Leben in Folge des Putsches durch Verfolgung und Inhaftierung geprägt wurde. Es sind zwölf von über Hunderttausend.

Gegen 22 Uhr am Abend des 15. Juli 2016 unterbrechen viele deutsche Nachrichtensendungen ihr Programm. Bilder, die im Fernsehen ausgestrahlt werden, zeigen durch Ankara rollende Panzer, gesperrte Straßen, hunderte Tote und Verletzte. Gegen die angeblichen Verursacher*innen des Putsches sowie jene, die sich kritisch über die Regierung äußerten, wird fortan hart vorgegangen. So auch gegen Oktay Özdemir. Von heute auf morgen wird er als Terrorist bezeichnet.


„Ich bin es schuldig, zu sprechen"

Der Lehrer und Unternehmensberater flieht nach Deutschland. „Dies war eine radikale Entscheidung. In ein Land zu gehen, dessen Sprache man nicht spricht, alles, was man sich aufgebaut hatte, zurückzulassen", so Özdemir. In Duisburg findet er Unterschlupf in einer Geflüchtetenunterkunft. Für ihn war klar: „Ich möchte nicht schweigen. Den Menschen, die in meinem Heimatland verfolgt werden, bin ich es schuldig zu sprechen". Gemeinsam mit Ehrenamtlichen des Vereins Ruhrdialog und der Duisburger Flüchtlingshilfe entwickelte er die Idee, auf Schicksale anderer Türk*innen aufmerksam zu machen.


Da ist zum Beispiel Gökhan Acikkolln, eines der ersten Todesopfer der menschenunwürdigen türkischen Haftbedingungen. Im Ausstellungsraum hängt ein schwarz-weißes Bild im Großformat von ihm. Eine Infokarte daneben erzählt seine Geschichte: Der Diabetes-Patient wurde so lange gefoltert, bis er den Wachleuten zugerufen haben soll: „Ich unterschreibe was ihr wollt, aber hört mit der Folter auf!". Eine türkische Journalistin berichtet in einem Audiobeitrag, dass sich 27 Personen auf drei Zellen verteilen müssten, das Licht ständig an sei, sodass den Inhaftierten jegliches Zeitgefühl abhanden komme. Viele wissen nicht, warum sie überhaupt im Gefängnis sitzen. „Wir reden hier über 100.000 Leute, die in direkter Weise betroffen sind", sagt Volkan Demirel von Ruhrdialog e.V., „viele sind in der Statistik nicht drin. Man schätzt so circa eine Millionen Leute, die in indirekter Weise betroffen sind".


Geschichten, die hängen bleiben

Darunter fallen auch knapp 16.000 Frauen, von denen einige unmittelbar nach der Entbindung ihrer Kinder - sozusagen direkt aus dem Kreißsaal heraus - verhaftet und gemeinsam mit ihren Säuglingen ins Gefängnis gesteckt wurden. Eine Statistik geht von 560 Kindern unter sechs Jahren und 14 unter einem Jahr aus. Es sind solche und ähnliche Geschichten, die die Fotoausstellung „Verfolgt - Gesichter des Ausnahmezustandes" erzählt. Die Personen sind auf großen schwarz-weißen Bildern dargestellt, es sind private, teilweise auch öffentliche Bilder der Betroffenen. Manche sind verschwommen, andere wiederum scharf. Einige zeigen die Opfer vor der Verhaftung, es gibt aber auch solche, die sie während oder nach der Inhaftierung abbilden. Die Infokarten daneben geben Hintergrundinformationen, die durch einen Audioguide zusätzlich ergänzt werden.


Die Geschichten machen sprachlos, wütend, traurig. Für die Initiator*innen der Fotoausstellung ist es wichtig eine Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen. „Wir wollten es so gestalten, dass verschiedene Berufsgruppen vertreten sind", erklärt Ülkü Özdaş, die sich bei der Ausstellung ehrenamtlich engagiert. Bei der Recherche für das Projekt gab es jedoch Probleme mit der Nachrichtenlage: „Es war schwierig an verlässliche Quellen zu kommen", bestätigt Serdar Ablak von Ruhrdialog e.V. Mindestens zwei bis drei Nachrichtenquellen mussten sich unabhängig voneinander decken. Dabei orientierte man sich an türkischsprachigen Internetportalen, den letzten regierungskritischen Zeitungen sowie dem offiziellen Amtsblatt der türkischen Regierung. Viele für das Projekt angefragte Personen seien aber auch nicht zum Gespräch bereit gewesen - aus Angst, was der Familie in der Türkei dann zustoßen könnte.


Spaltung zwischen Türk*innen

Aber nicht nur in der Türkei, auch in Deutschland habe sich der Tonfall zwischen Erdoğan-Anhänger*innen und Kritiker*innen verschärft. Das spüre man auch ein Jahr nach dem Putsch noch immer, erzählt die Ehrenamtliche Özdaş: „Es gibt Leute, die sich abwenden. Viele haben den Kontakt langsam abbrechen lassen". Auch die Ausstellung polarisiert von Beginn an: Auf sozialen Netzwerken wären die Ehrenamtlichen als Vaterlandsverräter und Terroristen beschimpft worden. „Wir waren auf einmal die Schuldigen, obwohl wir nichts mit der Politik in der Türkei zu tun haben", sagt Volkan Demirel.

Auch bei der Suche nach einer Räumlichkeit für die Ausstellung gab es Probleme: „Einige Vermieter haben uns gesagt, dass sie die Mehrheit der Türken nicht gegen sich haben wollen", erzählt Özdaş. Vor zwei Wochen hätten zudem AKP-Anhänger*innen vor dem Ausstellungsraum protestiert. Die türkische Nationalhymne sei gesungen, aus dem Koran rezitiert worden. Danach wären sie fluchend vorbeigezogen. Laut Aussage der Ehrenamtlichen sei der Duisburger Lokalpolitiker Bekir Sipahi, Vorsitzender der Partei Duisburger Soziale Politik und Mitglied im Duisburger Integrationsrat, Initiator der Demo gewesen. Ansonsten sei es während der Ausstellungszeiten jedoch eher ruhig - auch, was die Besucher*innenzahl angeht. Hauptsächlich kämen Deutsch-Türk*innen vorbei, um sich die Fotos anzusehen. „Wir hätten uns gerne mehr Menschen gewünscht, die tagsüber herkommen", gesteht Demirel.


Bei den Veranstaltungen, die zusätzlichen angeboten werden, waren hingegen auch schon bis zu 40 Menschen anwesend. Manche verdrückten auch die ein oder andere Träne, sagt Demirel. „Es sind die Geschichten - mehr als die Bilder - die die Menschen treffen". Noch bis zum 10. November können sich Interessierte über diese Geschichten, diese Schicksale informieren. An eine baldige Besserung der Situation in der Türkei glaubt derweil keine*r der drei Ehrenamtlichen. Ülkü Özdaş ist zumindest der Meinung: „Das Volk muss was tun. Das Volk muss sich trauen was zu sagen".

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