Miriam Khan

Online-Redakteurin, Hamburg

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Artikel

Warum die Todeszahlen in Italien so viel höher sind als anderswo auf der Welt

Corona-Patienten in einem Not-Lazarett des Krankenhauses im norditalienischen Brescia.

Mehr als 2500 Opfer: Fast nirgends auf der Welt sind so viele Menschen an den Folgen des Coronavirus gestorben wie in Italien. Wieso ist das so? Wissenschaftler haben nun vielleicht eine Erklärung gefunden für die hohen Todeszahlen.

Noch hält China den traurigen Rekord der meisten Corona-Infizierten weltweit. Doch Italien ist von den dortigen hohen Fallzahlen nicht mehr allzu weit entfernt: Mehr als 31.500 Italiener haben sich bis Mittwochnachmittag mit der Lungenkrankheit angesteckt - in China sind es gut 81.100.

Hinzu kommt: Während in China die Ansteckungskurve in den letzten Tagen extrem abgeflacht ist, steigt sie in Italien weiter exponentiell an.

Auffällig ist außerdem: Setzt man die Zahl der Toten in Italien ins Verhältnis zur Zahl der Infizierten, so ergibt sich eine weitaus höhere Sterblichkeitsquote als in anderen Ländern. Wieso ist das so?

Ein Blick in die Zahlen

Mehr als 2503 Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus haben die Behörden in Italien bislang gezählt. In Relation zur Anzahl der Infizierten ergibt das eine Sterblichkeitsrate von rund 8 Prozent. Das bedeutet: Etwa jeder zwölfte infizierte Corona-Patient in Italien erliegt der Krankheit.

In China sind bisher 3241 Menschen an den Folgen von Covid-19 gestorben. Das entspricht einer Sterblichkeitsrate von 4 Prozent - jeder 25. Infizierte in China überlebt Corona nicht.

Die Situation in Deutschland stellt sich wie folgt da: Auf knapp 10.100 Infizierte kommen 26 Tote. Heißt: 0,3 Prozent der Deutschen, die Corona bekommen, stirbt. Also etwa jeder 333.

Noch eine weitere Zahl zum Vergleich: Südkorea verzeichnet bislang knapp 8500 Infektions- und 84 Todesfälle. Das bedeutet: Etwa jeder 100. Patient dort stirbt - eine Sterblichkeitsrate von etwa 1 Prozent.

Testet Italien zu wenig auf Coronavirus?

Woher kommen diese unterschiedlichen Zahlen? Wieso ist die Sterblichkeitsrate in Italien so viel höher? Mehrere Wissenschaftler und Journalisten haben versucht, dieser Sache auf den Grund zu gehen.

So zitiert etwa die Nachrichtenseite "Quotidiano" eine Studie des italienischen Think Tanks "Fondazione Gimbe". Deren Präsident Nino Cartabellotta prangerte an, dass in Italien immer noch zu wenig auf Corona getestet werde. Die höhere Sterblichkeitsrate bei seinen Landsleuten sei unter anderem auch auf die Entscheidung des Nationalen Gesundheitsrates zurückzuführen, Patienten nur dann auf Corona zu testen, wenn sie eindeutige Symptome ausgebildet hätten.

Dadurch sehe man bislang nur die Spitze des Eisbergs, sagte Cartabellotta. "Man könnte vermuten, dass in Italien der unter Wasser liegende Teil des Eisbergs aus weiteren 70.000 Fällen besteht, bei denen es nur leichte oder gar keine Symptome gibt". Diese Menschen seien aufgrund der fehlenden Tests in keiner Statistik erfasst und würden das Bild verzerren, so Cartabellotta.

Auch die WHO hatte Italien kürzlich aufgefordert, mehr Menschen auf das Virus zu testen.

Auf jeden Corona-Positiven kommen bis zu zehn unbekannte Infizierte

Zu einem ähnlichen Schluss kommen auch Forscher des Imperial College London. In einer im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlichten Studie, aus der die Zeitung "Corriere della Sera" zitiert, untersuchten die Wissenschaftler, welchen Effekt Massentests auf die Verbreitung des Virus haben und welche Rolle dabei die Dunkelziffer spielt.

Ihre Hypothese: Basierend auf den Fallzahlen in China und mathematischen Modellen muss man davon ausgehen, dass 86 Prozent der Corona-Infizierten nie in einer Statistik auftauchen. Das bedeutet: Die meisten Menschen wissen gar nicht, dass sie die Krankheit haben, und stecken somit unerkannt andere an.

Jeffrey Shaman, Mitautor der Studie, sagte gegenüber Reportern: "Wenn es in Amerika 3.500 bestätigte Covid-19-Fälle gibt, könnten es in Wirklichkeit insgesamt 35.000 sein." Oder anders ausgedrückt: Auf jeden Corona-Positiven kommen bis zu zehn unbekannte Infizierte. Gleiches gelte für alle anderen westlichen Länder, die zu spät mit exzessiven Tests begonnen hätten.

In den USA sorgten in den letzten Tagen Schilderungen von Menschen für Schlagzeilen, die mit Verdacht auf Corona vergeblich versuchten, sich testen zu lassen. Das Land verfügt über extrem knappe Test-Ressourcen im Hinblick auf Covid-19.

In Südkorea, wo die Sterblichkeitsrate extrem gering ist, wurden nach Angaben des US-Senders CNN allein bis 8. März 3692 Tests pro einer Million Menschen durchgeführt. Italien habe im gleichen Zeitraum 826 Tests pro einer Million Menschen gemacht.

Italien ist ein "altes" Land - was die Bevölkerung anbelangt

Ist die höhere Sterblichkeitsrate in Italien tatsächlich nur mit dem aus der hohen Dunkelziffer resultierenden Verzerr-Effekt zu erklären? Einer Analyse von CNN zufolge ist es so einfach nicht.

Auch die Bevölkerungszusammensetzung spiele eine signifikante Rolle: Laut einem UN-Report waren 2015 28,6 Prozent der Italiener 60 Jahre oder älter - nur in Japan lag dieser Wert mit 33 Prozent höher. Zum Vergleich: In Südkorea waren zum Zeitpunkt des Reports nur 18,5 Prozent der Menschen 60 oder älter - Platz 53 weltweit. Senioren sind erwiesenermaßen mehr gefährdet, an den Folgen des Coronavirus zu sterben als Jüngere. Das zeigten auch Zahlen aus Italien: Eine Analyse der Todesfälle in der vergangenen Woche ergab, dass 89 Prozent der Corona-Toten in Italien 70 oder älter waren.

Was ein Blick in den UN-Report noch verrät: Die Bevölkerungszusammensetzung ist in Deutschland vergleichbar mit der in Italien. Auch bei uns sind mehr als 28 Prozent der Menschen älter als 60 Jahre. Nino Cartabellotta vom Gimbe-Think Tank warnte daher: "Der jüngste Anstieg der Fälle in Spanien, Frankreich und Deutschland zeigt, dass der Kampf dort dem in Italien gleicht - mit einer Verzögerung von sieben bis neun Tagen." Diese Länder hätten nun "die Möglichkeit, im Voraus zu reagieren, nachdem sie den italienischen Film gesehen haben."

Quellen: " Quotidiano", " Corriere della Sera", CNN, Johns Hopkins Universität, UN-Report

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