Miriam Khan

Online-Redakteurin, Hamburg

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Das neue deutsche Beachvolleyball-Wunder

Jung, frech und schon jetzt unter den besten Beachvolleyballern der Welt: Julius Thole und Clemens Wickler spielten in Hamburg ihre erste WM – und prompt um Gold. Analyse eines kometenhaften Aufstiegs.

Im Tennisstadion am Hamburger Rothenbaum war es so laut, dass man nicht einmal mehr den Stadionsprecher verstand. 12.000 Zuschauer klatschten, jubelten, pfiffen. Sie feierten jedoch keine Tennisstars, sondern zwei Jungspunde, die sich auf dem Centercourt in den Sand warfen.

Julius Thole und Clemens Wickler sind das Beste, was der deutsche Beachvolleyball derzeit zu bieten hat. Bei der Heim-WM in Hamburg sorgten sie in den letzten anderthalb Wochen für mächtig Furore. Wie aus dem Nichts haben sie sich innerhalb eines Jahres an die Weltspitze gespielt. Am Sonntag ging es um Gold.

Vor einem Jahr spielten Thole und Wickler noch Qualifikationsturniere

Julius Thole ist 22 Jahre alt. Wenn er aber so verschmitzt lächelt, wie er es nach jedem Punktgewinn tut, könnte man denken, er sei gerade erst volljährig geworden. Mit 2,06 Meter und der athletischen Figur ist der Jurastudent ein Blockspieler, wie er im Buche steht. Der gebürtige Hamburger spielt von klein auf Volleyball - erst in der Halle, dann im Sand. Genau wie sein Partner Clemens Wickler, 24, aus Starnberg. Seine 1,91 Meter sind für einen Beachvolleyballer eher durchschnittlich, dafür ist er extrem drahtig und wendig. Neben dem Sport absolviert er ein BWL-Fernstudium.

Erst seit 2018 sind die beiden zusammen unterwegs, trainieren am Olympia-Stützpunkt in Hamburg. Vor einem Jahr mussten sie noch Qualifikationsturniere absolvieren, um bei den "Großen" mitspielen zu dürfen - jetzt sind sie schon an der Spitze ihres Sports angekommen. Nach der WM in Hamburg rangieren sie auf Platz 7 der Weltrangliste. Vor einem Jahr lagen sie noch auf Rang 65.

Darum ist es im Beachvolleyball so wichtig, mit wem man zusammenspielt

Wie wichtig die Wahl des jeweiligen Partners ist, versteht man, wenn man sich ein anderes deutsches Beachvolleyballteam anschaut. Laura Ludwig und Kira Walkenhorst galten lange als die besten Beachvolleyballerinnen der Welt.

Physisch topfit, perfekt aufeinander eingespielt. 2016 holten sie in Rio gegen die Lokalmatadorinnen aus Brasilien den Olympiasieg - und zwar deutlich und eindrucksvoll.

Doch dann kam das Verletzungspech bei Walkenhorst, Anfang dieses Jahres beendete sie ihre Karriere. Ludwig spielt seitdem mit neuer Partnerin: Maggie Kozuch. Zwischen den beiden harmonierte es bislang noch nicht hundertprozentig, die Lauf- und Zuspielwege der jeweils anderen haben sie noch nicht verinnerlicht. Bereits in der Hauptrunde war für die beiden in Hamburg Schluss - genau wie für die anderen deutschen Teams. Nur das Damen-Duo Karla Borger und Julia Sude schaffte zumindest den Einzug ins Achtelfinale.

Ihren kometenhaften Aufstieg können sich Thole und Wickler manchmal selbst nicht erklären

Thole/Wickler spielten sich jedoch bis ins Finale durch, schlugen dabei Weltklasseteams aus Norwegen, Polen und Brasilien. Im Finale warteten die starken Russen Oleg Stojanowski und Wjatscheslaw Krassilnikov. Das Stadion war an diesem Sonntag bis auf den letzten Platz gefüllt, bereits drei Stunden vor Anpfiff standen die Menschen mehrere hundert Meter Schlange, um Thole/Wickler spielen zu sehen. Die, die es reinschafften, hauten sich die Klatschpappen um die Ohren, machten La-Ola-Wellen und brüllten sich die Seele aus dem Leib.

Zunächst mit Erfolg: Der erste Satz ging an die Deutschen. Fast nach jedem Punktgewinn umarmten sich Thole und Wickler, klatschten sich ab. Ab und an, wenn der Ball zuvor besonders oft die Seiten gewechselt hatte, ballte Thole die Faust, strahlte erstaunt, als könne er selbst nicht glauben, dass er wirklich im WM-Finale steht.

Ihren kometenhaften Aufstieg können sich die beiden manchmal selbst nicht erklären. Davon zeugen auch ihre Facebook-Postings: "Da wachst du morgens auf und hast tatsächlich die Weltmeister geschlagen", schrieben sie etwa nach dem Sieg gegen die Niederlande, der gleichzeitig den Achtelfinaleinzug bedeutete. "Wir drehen durch", hieß es nach dem Einzug ins Halbfinale.

Inzwischen zählen Thole und Wickler zur Weltelite

Thole und Wickler zählen auf ihren Positionen derzeit zur Weltspitze, trotz ihres noch jungen Alters. Wickler gilt als einer der besten Abwehrspieler, jagt jedem Ball hinterher. Er ist extrem reaktionsschnell, kann sich im Hechtsprung wie ein Gummiband ausdehnen und hat in Hamburg den härtesten Aufschlag des ganzen Turniers übers Netz geschlagen - 2500 Dollar Preisgeld gab's hinterher dafür.

Thole ist der vielleicht beste Blockspieler der Welt im Moment, trieb die niederländischen Gegner im Sechzehntelfinale mit seinen ausgestreckten Händen ein ums andere Mal zur Verzweiflung.

Die beiden verstehen sich meist blind, der eine antizipiert, wo der andere hinläuft. Ihre mentale Einstellung ist einzigartig: Sie sind trainingsfleißig und selbstbewusst, trotzdem demütig und nie überheblich. Dazu kommt eine große Portion jugendliche Unbekümmertheit - sie merken oft gar nicht, wie gut sie sind. Der Sportdirektor des Deutschen Volleyballverbands (DVV), Niclas Hildebrand, sagt über die beiden: "Sie sind schon jetzt das neue Aushängeschild. Mit welcher Konsequenz sie spielen, ist beeindruckend. Trotzdem sind sie auf dem Feld auch emotional."

In ihrer frischen, konsequenten Spielweise erinnern Thole und Wickler an das bisher erfolgreichste Beachvolleyball-Männerteam Julius Brink und Jonas Reckermann. Die beiden holten zuvor als erstes deutsches Duo Olympisches Gold. 2012 in London war das - Brinkmann war damals 30, Reckermann 33 Jahre alt.

Am Ende gewinnen die Russen

Lief der erste Final-Satz in Hamburg noch gut für die beiden Deutschen, so gab es im zweiten und dritten Satz weniger zu jubeln. Beide Durchgänge gingen an die Russen. Das, wofür die beiden Deutschen normalerweise so gelobt werden, konnten sie am Sonntag nicht zeigen. Wickler schlug mehrere Aufschläge ins Netz, Thole wirkte vorne kraftlos und konnte mit seinem Blockspiel gegen die Russen nichts ausrichten. Es wirkte, als wäre nach dem überraschenden Durchmarsch bis ins Finale plötzlich die Luft raus.

19:21, 21:17 und 15:11 für Stojanowski und Krassilnikov hieß es nach 75 Minuten. Nach dem letzten Ball fielen die beiden Russen im Sand auf die Knie, umarmten sich. Auch sie sind noch jung, 22 und 28. Stojanowski trägt sogar noch eine Zahnspange. Für beide war es der erste große Titel.

Standing Ovations für Thole und Wickler

Das wäre es auch für Thole und Wickler gewesen. Ihr bisher größter Erfolg: der Gewinn der Deutschen Meisterschaft 2018 am Timmendorfer Strand. Wohlgemerkt: kurz, nachdem sie angefangen hatten, miteinander zu spielen.

Die Trauer über das knapp verpasste Gold wich dann am Sonntag schnell der Freude über Silber: "Am Anfang war die Enttäuschung natürlich groß und ich war den Tränen nah. Aber jetzt kommt schon ein bisschen der Stolz", sagte Wickler im ARD-Interview. "Wir haben die ganze Woche über sehr gute Leistungen abgerufen, auch im Finale." Die Fans honorierten das Ganze mit minutenlangen stehenden Ovationen.

Für die beiden Youngster weiter kein Grund zum Abheben: "[Das] werden wir garantiert nicht. Ich hole Julius auf den Teppich zurück und er mich", sagte Wickler einige Stunden nach dem verlorenen Finale. Trotzdem hat die Konkurrenz das deutsche Duo spätestens jetzt auf dem Zettel.

Gibt es in Tokio schon Olympia-Gold?

Viel schneller als gedacht haben sch die beiden Jungspunde in der Weltspitze etabliert - dabei war das Projekt Thole/Wickler eigentlich erst auf Olympia 2024 ausgerichtet, verriet DVV-Sportdirektor Hildebrand. Doch das Hamburger Beach-Duo überraschte mit seiner Entwicklung sogar den eigenen Verband. Mit 22 und 24 sind Thole und Wickler Vizeweltmeister - und dabei gerade am Anfang ihrer Karriere.

Die nächste Mission lautet also: Olympia 2020. Was da drin ist? Thole: "Wenn wir gelassen auftreten und uns regulieren, können wir jedes Team der Welt schlagen."

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