Michi Jo Standl

freier Journalist und Reporter, Illingen

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Reportage

DIE LETZTE FLUCHT

Während der Flüchtlingsdebatten wird oft vergessen, dass hinter dem Wort „Asylbewerber“ Lebenswege stehen. Geschichten von Menschen mit Berufen, verlorenen Existenzen und Gefühlen. Obwohl in Sicherheit, sind sie noch immer auf der Flucht. Auf einer letzten Flucht aus der Gesichtslosigkeit.


Nahezu das ganze Saarland ist auf den Beinen, um Flüchtlingen zu helfen. Lokalpolitiker zeigen sich gerne im Dunstkreis des Geschehens. Jeden Tag wird über das Schicksal der Geflüchteten beraten. Zwei von ihnen erzählen ihre Geschichte, die stellvertretend für alle Vertriebenen steht.


Ahmad Khalil (25) und Osama Kharbatli (50) mit seiner Familie leben nach der Zeit in der Landesaufnahmestelle Lebach jetzt in Wohnungen. Sie belegen Deutschkurse, werden vom Jobcenter auf ein eigenständiges Leben vorbereitet. Die Kharbatlis leben in einem Haus in Nalbach. Das Interview will Kharbatli auf Deutsch führen, um die Sprache zu lernen, wie er erklärt. Er stammt aus der nordsyrischen Millionenstadt Aleppo. Genau wie Ahmad Khalil. Der junge Mann hat Familie Kharbatli aber erst im Saarland kennengelernt. Er wohnt in Körprich und kommt mit dem Bus nach Nalbach. Sie sehen sich regelmäßig, die Herkunft verbindet.

Kharbatli war in Syrien erfolgreicher Unternehmer. Mit 20 Mitarbeitern fertigte er Maschinen, unter anderem für Medizintechnik und Lebensmittelhersteller. Bis das Firmengebäude und sein Wohnhaus bei einem Bombenangriff des syrischen Assad-Regimes komplett zerstört wurden. Kharbatlis Mitarbeiter, seine Familie und er überlebten den Angriff.

Aber Kharbatli fasste einen Entschluss: Er muss mit seiner Familie weg und das möglichst schnell. Vorerst ohne Frau und Kinder machte er sich, quasi als Vorhut, auf den Weg nach Beirut mit dem Ziel, von der libanesischen Hauptstadt aus nach Europa zu fliegen. „Ich wollte einfach dem schmutzigen Krieg in Syrien entkommen“, sagt er.

Auf der Fahrt nach Beirut geschah das Unfassbare. Bei Homs, einer syrischen Stadt kurz vor der libanesischen Grenze, wurde er entführt. Unbekannte verlangten Lösegeld für die Freilassung des Unternehmers. Für Kharbatli ist heute klar: „Die Tat war nicht politisch motiviert. Das waren Kriminelle, Wegelagerer, denen es nur ums Geld ging.“ Sein Bruder überbrachte den Entführern umgerechnet 40 000 Euro. Nach zwei Tagen wurde Kharbatli freigelassen. Von Beirut aus flog er schließlich nach Warschau, verbrachte vier Tage in Polen, bis er seine Reise nach Deutschland mit dem Zug fortsetzen konnte. Seit 14 Monaten ist er jetzt im Saarland. Bereits nach drei Monaten konnte seine Ehefrau mit dem Sohn und der Tochter nachkommen. Die Kinder gehen hier zur Schule, haben Freunde gefunden.


Ahmad Khalil arbeitete in Aleppo in einer Boutique, als er sich mit seinen Eltern und seinen zwei Schwestern für die Flucht entschied. Zu seiner Freundin, die vermutlich noch in Syrien ist, habe er keinen Kontakt mehr, erzählt er mit erstickter Stimme. Der erste Weg führte die Familie in die Türkei, wo sich die Wege trennten. Da das Geld knapp war, blieb seine Mutter am Bosporus. Seinem Vater gelang es gemeinsam mit Khalils Schwestern, die Grenzen bis Marokko zu überwinden. Über Spanien gelangten die drei nach Belgien, wo sie heute noch leben. Khalil machte sich währenddessen über Georgien auf nach Russland. Eine fatale Entscheidung. Denn Wladimir Putin duldet keine Flüchtlinge. Khalil kam ins Gefängnis. Einem engagierten Anwalt gelang es, ihn nach zwei Monaten rauszuholen und ihm den Rückflug nach Syrien zu ermöglichen. Die Flucht begann von vorne. Der junge Mann ging erneut in die Türkei, setzte seine Odyssee diesmal über Griechenland und Serbien nach Bulgarien fort. Er landete in einem Camp – kaum warmes Wasser, selten etwas zu essen und Chaos. „Andere Flüchtlinge unterschiedlicher Religionen gingen mit Messern aufeinander los“, erzählt Khalil. Die bulgarische Polizei habe aber nicht eingegriffen. Nach fünf Monaten brachten ihn Schleuser in einem Lieferwagen nach Deutschland. 300 Euro bezahlte er. Dass der 25-Jährige diese Fahrt überlebte, ist pures Glück. Die 71 Flüchtlinge, die in Österreich tot in einem LKW gefunden wurden, sind ersten Ermittlungen zufolge ebenfalls in die Hände bulgarischer Schlepper gefallen.


Die Kharbatlis wollen nach Kriegsende in ihre Heimat zurück. Wann das ist, weiß niemand. Khalil möchte hier bleiben, weil er in Europa bessere Chancen sieht. Er hofft, dass seine Familie bald wieder zusammen ist, egal wo.