Wie kann es sein, dass sexueller Missbrauch im Film jahrelang ungeahndet bleibt? Wir haben mit Regisseurin Bettina Schoeller-Bouju über den Fall Dieter Wedel und die Pläne der Initiative Pro Quote Film gesprochen.
EMOTION.DE: Frau Schoeller-Bouju, was ging in Ihnen vor, als Sie von den Vorwürfen gegen Dieter Wedel gehört haben?
Ich kenne Dieter Wedel nur aus Erzählungen. Menschen, die mit ihm gearbeitet haben, berichten, dass er menschlich schwierig sein soll. Darum hat mich das grundsätzlich nicht überrascht - das Ausmaß und die Brutalität, die hier offenbar stattgefunden hat, sind allerdings schockierend.
Es ist ein strukturelles Problem. Der Fall Weinstein in den USA hat gezeigt, dass hier Mechanismen entstanden sind, die sexuellen Missbrauch leicht möglich machen. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch in Deutschland solche Fälle bekannt werden. Es wäre naiv zu glauben, dass es diese Form von Machtmissbrauch bei uns nicht gibt. Aber die Oberfläche ist nun aufgebrochen und ich denke, dass noch mehr Betroffene ihr Schweigen brechen werden.
Ich denke, dass Dieter Wedel ein Produkt dieser Gesellschaft ist. Er ist das Stereotyp des männlichen Genies, das sich über alle Grenzen hinwegsetzen darf. Er kann Budgets überziehen, Leute vor versammelter Mannschaft fertig machen - und seine Auftraggeber dulden das alles, in der Hoffnung, dass er den nächsten Quotenhit landet. Dass man sich als Genie danebenbenimmt, wird fast schon erwartet. Viele bewundern bestimmt das männliche Genie und identifizieren sich mit einem Anführer, der anscheinend sehr genau weiß, wo es langgehen soll. Aber da liegt auch ein Missverständnis des Berufs vor: Regisseurinnen und Regisseure benötigen zwar das Vertrauen, eigenmächtig kreative Entscheidungen treffen zu können, aber sie dürfen nicht denken, dass ihre Schauspielerinnen, Schauspieler oder Teammitglieder Leibeigene sind.
Tatsächlich geht der Begriff des Genies weit in die Geschichte zurück. Im 18. Jahrhundert war er sehr en vogue und fest mit der Männlichkeit verknüpft. Man ging davon aus, dass überragende geistige und schöpferische Fähigkeiten aus der Zeugungskraft des Mannes entstehen. Das Genie liegt sozusagen im Pimmel. Die kreative Genialität wird eng mit der Sexualität verknüpft - was zu gefährlichen Konsequenzen führen kann. Das spüren wir bis heute.
Nein, dieses Problem besteht branchenübergreifend. Das haben viele Skandale in letzter Zeit gezeigt - in der Katholischen Kirche, in der Odenwaldschule, bei der Ergo-Versicherung, die Reisen in den Puff organisiert. Machtmissbrauch ist weit verbreitet und er findet vor allem dort statt, wo entmischte Systeme herrschen und eine Gruppe von Männern die Fäden in der Hand hat.
Das Problem ist, dass gerade Schauspielerinnen unter einem hohen Druck stehen, was ihr Äußeres betrifft. Sie sollen perfekt sein, am besten wie ein Topmodel aussehen - und das ohne Photoshop. Außerdem müssen Schauspielerinnen sexy sein, um einen Job zu bekommen. Und genau diese Sexiness wird ihnen dann zum Vorwurf gemacht.
Genau: "Die muss sich ja nicht wundern, die Schlampe... " Die Frauen können in diesem System nichts richtig machen: Sie müssen jung und attraktiv sein, um überhaupt vorzukommen. Ab 30 verschwinden Frauen vom Bildschirm und den Kinoleinwänden. In Zahlen: Auf eine Frau bis 35 kommen im deutschen Film und TV zwei Männer, ab einem Alter von 50 sind es drei Männer und ab 60 sogar vier. Altern und "normal" sein ist kaum erlaubt. Hier wird ein Sexismus in einer Art Endlosschleife wiederholt, den kaum noch jemand bewusst wahrnimmt. Deswegen waren wir von Pro Quote Regie anfänglich mit einer Art Wiederbelebung beschäftigt.
Hier muss man sich ansehen, wie Regisseure/innen und Schauspieler/innen zusammenarbeiten. Unsicherheit und Unerfahrenheit können für das Spiel sehr bereichernd sein - diese Schauspieler sind noch offen, weich und nicht so festgefahren. Das ist wichtig für die Arbeit. Gleichzeitig werden sie gerade dadurch, dass sie sich so öffnen, verwundbar. Wird ihre Unsicherheit dann ausgenutzt, kann das schlimme Folgen haben. Davor muss man die Frauen schützen.
Nur wie? Die Fälle Wedel und Weinstein zeigen ja, wie viele beteiligte Menschen die Augen verschlossen und die Frauen allein gelassen haben.
Das mag unglaublich erscheinen, aber man muss bedenken, wie die Leute arbeiten: An einem Filmset ist fast niemand fest angestellt. Die Mitarbeiter wissen: Wenn sie den Mund aufmachen und sich einem dieser Machtmenschen entgegenstellen, fliegen sie raus. Denn welches Gewicht hat die Aussage einer Kostümbildnerin oder Garderobiere, wenn sogar der Intendant den Täter deckt? Sie würden ihr Einkommen und damit die eigene Existenz gefährden. Ich finde, unter diesen Umständen, in diesem Klima der Angst, kann man niemandem einen Vorwurf machen.
Wir von Pro Quote Film setzen uns für eine überbetriebliche Beschwerdestelle ein. Es muss klar sein, dass öffentlich-rechtliche Sender, Produktionsfirmen und andere Auftraggeber derartiges Verhalten nicht mehr dulden. Nur dann können Teammitglieder Bericht erstatten. Sie müssen wissen, dass ihre Chefs ihnen dafür dankbar sind - und sie nicht noch abstrafen.
Wir von Pro Quote Film wollen die Strukturen selbst verändern. Die Erfahrungen zeigen, dass ein ausgeglichenes Verhältnis von Frauen und Männern das beste Mittel gegen Machtmissbrauch ist. Darum brauchen wir eine Frauenquote in der Filmbranche, denn freiwillig geben Menschen ungern ihre Macht ab.
Macht - und Geld.Die finanzielle Gleichstellung bei Honoraren oder Fördergeldern ist auch eine zentrale Forderung von Pro Quote Film. Hier gibt es zum Teil drastische Unterschiede: Frauen aus den Bereichen Kamera oder Szenenbild verdienen bis zu 65 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Arbeit von Frauen wird also eindeutig abgewertet. Diese Vorurteile müssen wir ablegen, damit auch mehr Frauen in die kreativen Schlüsselpositionen kommen.
Ja, die Zahlen verbessern sich. Der Anteil an Frauen in der Regie steigt, seit die öffentlich-rechtlichen Programme sich eine Quote von 20 Prozent vorgenommen haben. Produktionsfirmen suchen gezielt nach Regisseurinnen, auch um die Geschichten anders zu erzählen. Das ist ein guter Weg, den wir konsequent weitergehen müssen. Sicher brauchen wir Hierarchien, aber es geht darum, verantwortungsvoll damit umzugehen. Positiv ist auch, dass inzwischen bei der Produktion von Filmen und Serien viel Wert auf Teamarbeit und Kommunikation gelegt wird. Daher bin ich optimistisch, dass Despoten-Typen wie Dieter Wedel aussterben werden.
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