Frau Posenenske hat den Burkini noch nie gesehen. Die Schwimmlehrerin aus Frankfurt weiß nicht einmal, wo der überhaupt ist. Keine einzige ihrer Schülerinnen wollte ihn bisher tragen. Dabei hat der Förderverein der Schule den Burkini extra bestellt, um zu zeigen: Wenn muslimische Familien ihre Töchter vor Blicken schützen wollen, dann haben wir Verständnis, dann gehen wir einen Schritt auf sie zu. Der Burkini gilt schließlich in letzter Zeit als der Kompromiss bei Integrationskonflikten schlechthin.
Einer, für den der Ganzkörper-Badeanzug keine Lösung ist, geriet am vergangenen Dienstag in die Schlagzeilen: der türkischstämmige Schweizer Aziz O. Seine Töchter, beide im Grundschulalter, hatten einst zum gemischten Schwimmunterricht gehen sollen. Sie könnten Burkini tragen, bot die Schule in Basel an. O. und seine Frau lehnten ab, sie verboten den Mädchen, zusammen mit Jungen zu schwimmen. Umgerechnet ungefähr 1000 Euro sollten sie als Bußgeld zahlen, entschied die Schulbehörde. Schließlich gelte beim Schwimmunterricht die Schulpflicht.
Die Familie wollte sich damit nicht abfinden, klagte gegen das Bußgeld. Diese Woche, fast zehn Jahre später, endete der Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ( EGMR). Die Richter in Straßburg waren sich einig: Es soll keine Ausnahmen für junge Musliminnen geben. Für Schüler sei es wichtig, den Unterricht gemeinsam mit den Klassenkameraden zu erleben. Es gehe um soziale Integration, und diese stehe über den religiösen Vorstellungen der Eltern. Das Ja zum gemischten Schwimmunterricht ist richtungsweisend, Urteile des Menschenrechtshofs haben Signalwirkung.
„Urteile sind keine Allheilmittel"Bei der Förderschule Johann-Hinrich-Wichern in Frankfurt am Main kommt davon wenig an. „Solche Urteile sind einfach nicht die Allheilmittel, als die sie oft hingestellt werden", sagt die Schwimmlehrerin, die den Burkini noch nie gesehen hat. Jeden Montag begleitet Claudia Posenenske die Schüler ins Hallenbad, die meisten von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Bußgeld könnte sie in Absprache mit den Klassenlehrern regelmäßig verhängen; in jedem ihrer Kurse fehlen ein oder zwei Kinder. So gut und wichtig sie das Urteil des EGMR findet - sie hat noch nie ein Ordnungsverfahren eingeleitet. „Und auch in Zukunft", sagt sie, „werde ich das nicht tun."
Warum eine Lehrerin, noch dazu eine so engagierte wie Frau Posenenske, ihre Schüler nicht zur Teilnahme verdonnert, obwohl sie es könnte und obwohl Schwimmenlernen doch so wichtig ist? Wegen der Kinder, sagt sie. Und weil man im Kleinen ganz andere Dinge beachten müsse als ein Gericht: „In dem Moment, in dem wir etwas gegen den Willen der Eltern durchsetzen, geraten die Schüler in einen wahnsinnigen Interessenkonflikt. Sie wollen sich mit dem Vater und der Mutter solidarisieren, aber auch gute Noten bekommen. Wenn es zwischen Zuhause und Schule Diskrepanzen gibt, wird das schwer." Also bleibt sie mit den Familien im Dialog.
Gemeinsame Lösungen funktionieren aber nicht immer. Auch in Deutschland waren muslimische Familien vor Gericht gezogen, so 2013: Damals klagte eine erst 13-Jährige aus Frankfurt am Main. Ihre Eltern hatten im Namen der gesamten Familie einen Antrag auf Befreiung vom Schwimmunterricht gestellt. Die Schule lehnte das ab. Weil das Mädchen nicht mehr zum Kurs erschienen war, bekam es eine Sechs im Zeugnis. Das deutsche Bundesverwaltungsgericht urteilte, dass Musliminnen am Schwimmunterricht teilnehmen müssen. Leicht bekleidete junge Männer seien in Deutschland im Sommer überall zu sehen, das müsse die Klägerin hinnehmen. Um sich zu verhüllen, könne sie einen Burkini tragen.
Schulpflicht vor ReligionsfreiheitLange fiel die Rechtsauslegung in Deutschland unterschiedlich aus, mal zugunsten der muslimischen Eltern, öfter zugunsten der Schulen. Ende vergangenen Jahres lehnte das Bundesverfassungsgericht die Klage der Frankfurter Muslimin ab. Damit bekam die Linie der Gerichte etwas Endgültiges: Im Zweifel steht die Schulpflicht über der Religionsfreiheit.