2016 waren in Österreich 120.000 Kinder und Jugendliche arm oder mehrfach ausgegrenzt. Michael Wögerer schreibt in seinem Tagebuch über eine Kugel Eis für 1,30 Euro.
Wie es der Zufall so will, wurde mir heute überraschenderweise eine besondere Aufgabe zu teil. Ich durfte meine 7-jährige Nichte Lisa von der Schule abholen. Ihre Eltern sind beide berufstätig und die Omas und Opas hatten keine Zeit.
Zum Glück musste ich heute erst später in die Arbeit und so konnte Onkel Michael erstmals einspringen.
Lisa kommt die Stiegen herunter, sieht mich und winkt mir zu. Sie verabschiedet sich mit einer herzlichen Umarmung von ihrer Freundin und wir machen uns auf den Heimweg. Dabei erzählt sie mir, dass sie heute Deutsch, Englisch und Mathematik hatte, wobei sie - genauso wie ihr Onkel - Rechnen nicht so prickelnd findet.
Wir fahren gemeinsam zum Kutschkermarkt und essen Pizza. Mein Bruder hat angekündigt, dass er uns einlädt, weil er weiß, dass ich im Moment mit sehr wenig Geld auskommen muss. Ich versuche Lisa zu erklären, dass ich derzeit für Essen & Co. durchschnittlich 7,50 Euro am Tag zur Verfügung habe. Für sie ist das allerdings einfach eine Zahl, mit der sie nichts anfangen kann.
Nach Bezahlung der Rechnung versuch ich es ein wenig plakativer. "Schau Lisa, ich habe gerade 30 Euro für unser gemeinsames Essen bezahlt. Mit diesem Geld muss der Onkel im Moment ganze vier Tage leben." Doch auch dieses "Zahlenspiel" zeigt nicht den erwünschten Wow-Effekt.
Neben der Pizzeria in der Kutschkergasse befindet sich auch ein italienischer Eissalon. Die Sonne scheint, viele Menschen sitzen draußen und genießen ihr Gelati. Wenn schon der Papa das Essen bezahlt, dann sorgt der Onkel für die Nachspeise, denke ich mir (eine Kugel um 1,30 Euro - das war früher auch mal billiger, oder?). Lisa ist einverstanden, dass wir uns jeder trotz der großen Auswahl nur eine Sorte Eis gönnen. Mhmmm, das schmeckt gut!
Für einen kurzen Moment vergesse ich, dass ich gerade mehr als 1/3 meines Tagesbudgets ausgegeben habe. Da kommt auch schon Lisas Papa und holt die kleine Dame ab. Ich bin sehr froh, dass sie in einem Umfeld aufwachsen kann, in dem ihr an materiellen Dingen nichts fehlt. Leider ist das nicht überall der Fall. Denn auch in Österreich gibt es Kinderarmut.
"Arme und armutsgefährdete Kinder gibt es in allen Regionen Österreichs, in Familien mit einem oder zwei Elternteilen, in berufstätigen Familien. Sie leben mit und unter uns - auch wenn wir sie oft nicht sehen", schrieb Manuela Wade ( Volkshilfe Österreich) im April 2016 auf Mosaik - Politik neu zusammensetzen.
Konkret waren in Österreich im vorigen Jahr 120.000 Kinder und Jugendliche arm oder mehrfach ausgegrenzt.
Wenn Lisa etwas größer ist, werde ich es nochmals versuchen ihr diese Dinge zu erklären. "Kannst du dich noch erinnern, als wir Pizza essen waren und ich dich auf ein Eis eingeladen habe und von diesen komischen 7,50 Euro am Tag sprach?", werde ich sie dann fragen.
Ich bin überzeugt, dass Lisa irgendwann verstehen wird, wie ungerecht es ist, dass es Kinder gibt, deren Eltern nicht die Möglichkeit haben sie auf eine Pizza oder ein Eis einzuladen.
Und sie wird auch begreifen, warum ihr Onkel damals im Mai 2017, als er sie zum ersten Mal von der Schule abgeholt hat, diese verrückte Aktion gemacht hat.
Meine heutigen Ausgaben belaufen sich auf exakt 12 Euro - Gelati für Lisa und mich um 2,60 Euro und 2 Schachteln Zigaretten (9,40 Euro) - Wuzzeln war mir heute zu mühsam. Noch 110,28 Euro für 14 Tage.
Michael Wögerer ist ein österreichischer Journalist. Er arbeitet in Wien als Redaktionsassistent bei der Austria Presse Agentur (APA) und ist Mitbegründer von „Unsere Zeitung - die Demokratische", einem Kooperationspartner von Neue Debatte. Fragen, Anmerkungen, Lob und Tadel sowie Feedback zur Aktion, können als Kommentar unter dem Beitrag geschrieben oder an seine E-Mail michael.woegerer(at)gmail.com gesendet werden.Die bisherigen Tagesnotizen:
31 Tage Mindestsicherung - Eine Annäherung (30.4.)
Tag 1 - Kein Spiel! (1.5.)
Tag 2 - Konsumgesellschaft (2.5.)
Tag 3 - Öffentlichkeit schaffen! (3.5.)
Tag 4 - Lebensrealitäten (4.5.)
Tag 5 - Freundschaft (5.5.)
Tag 6 - Netzwerke (6.5.)
Tag 7 - Kein Märchen (7.5.)
Tag 8 - Befreiung (8.5.)
Tag 9 - Nachhaltigkeit (9.5.)
Tag 10 - Durchatmen (10.5.)
Tag 11 - Lebenserwartung (11.5.)
Tag 12 - Exklusiv (12.5.)
Tag 13 - Soziale Hängematte (13.5.)
Tag 14 - Sigi, du fehlst! (14.5.)
Tag 15 - Halbzeit (15.5.)
Tag 16 - Beim Frisör (16.5.)