Wind zerzaust die Haare, nagt an den klammen Fingern und verschluckt Geräusche. Gewürzt mit einer Prise Meersalzaroma umweht er die kleine Wandergruppe. "Es könnte sein, dass es heute Schnee gibt. Das Wetter ändert sich gerade", sagt Ranger Jim Cornfoot. Der 35-jährige Schotte in der orangefarbenen Outdoorjacke führt regelmäßig Wanderer auf den Cairn Gorm.
Es ist Ende September und dies schon die letzte Tour des Jahres: Das gleichnamige Gebirge gilt als das höchste, kälteste und schneereichste Plateau der Britischen Inseln. Cairn Gorm - der "Blaue Hügel" wie der gälische Name übersetzt heißt - ist mit 1244 Metern der sechsthöchste Gipfel Großbritanniens. Er gilt als eher leicht zu besteigen, ist aber gefürchtet für seine Wetterkapriolen. Noch ist der Berg der kleinen Wandergruppe gnädig, auch wenn sich sein Gipfel in einen weißen Wolkenschleier hüllt. Sogar der schottische Regen lässt auf sich warten. Noch.
In einem Bergkessel am Fuße des Cairn Gorms, wenige Meilen vom Skiort Aviemore im Nordosten Schottlands entfernt, haben die Ranger ihre Basis. Von da schiebt sich eine Bergbahn rund 460 Meter auf den Granitriesen und bringt vor allem Skifahrer an ihr Ziel. "Die Bahn hat die größte Spurbreite der Welt", sagt Cornfoot mit seinem melodischen schottischen Singsang. Aber Standseilbahnen sind keine echte Option für die Wanderer und so beginnt der Aufstieg über den Grat im Westen des Bergkessels.
Bereit die erste Steigung ist harte Arbeit. Beim Tritt auf einen Stein versinkt dieser schmatzend im morastigen Boden. "Das ist wirklich anstrengend, vor allem für die Knie", meint die 31-jährige Alex Vela. Ihr Freund Simon McCulloch, 34 Jahre, sagt: "Das ist das erste Mal, dass wir auf einen Berg wandern." Beide kommen aus dem englischen Northampton - und dort gibt es im Vergleich nur armselige Hügel. Im Cairngorm-Nationalpark befinden sich dagegen fünf der sechs höchsten Berge Großbritanniens. Auf einer Fläche von 3800 Quadratkilometern, vergleichbar mit Mallorca, leben rund 16.000 Menschen, unzählige Schafe und seltene Tierarten wie der Steinadler oder der schottische Auerhahn.
Schüler forsten mit Pinien auf
Schon der Ausblick beim Zwischenstopp ist grandios: Im Vordergrund liegt der See Loch Morlich, dahinter der Ort Aviemore und das Tal des Flusses Spey. Ranger Cornfoot deutet auf einen geschwungen Bergrücken, den "Ben Macdui". Es ist der zweithöchste Gipfel Großbritanniens. Sein Name bedeutet "Berg der Söhne Mac Duffs" und stammt aus einer Zeit, als die Schotten noch Vieh zum Weiden in die Berge trieben.
Die Landschaft ist karg. Heidekraut krallt sich an die Felsen. Eine Hand voll Bäume – sie sind vielleicht einen Meter hoch - kümmern zerfleddert von Wind und Regen vor sich hin. "Die sind zwischen 50 und 60 Jahre alt", erklärt Cornfoot. Inzwischen kommen Schulklassen hierher und pflanzen junge schottische Pinien. "So bekommen die Schüler ein ganz anderes Verhältnis zur Natur", sagt er. Dafür ist es auch Zeit. Weit unten im Tal steht er noch – der Rest des mächtigen kaledonischen Pinienwaldes, den schon die Römer kannten.
Hier oben besteht die Welt aus kahl rasierten Hügeln, eine Mondlandschaft in sattem Grün und Erdfarben, durchschnitten von kleinen Flussläufen und Felsen. Der kaledonische Wald fiel dem Schiffsbau zum Opfer oder wurde verfeuert. "In London hat man historische Wasserleitungen aus Holz gefunden – und das Holz kam hierher", erzählt der Tourranger.
Roter Schotter bedeckt die Wege. Granit, der regelrecht von der Zeit zermalmen wurde. Selbst das härteste Gestein hatte bei den Naturgewalten, die hier herrschen keine Chance. In der vergangenen Eiszeit formten gewaltige Gletscher diese stumpfen, öden Bergkuppen. "Bis nach London war Großbritannien mit Eis bedeckt", so Cornfoot. Schmelzwasser schnitt tiefe Rinnen in die Landschaft. Es entstanden die schottischen Täler, die berühmten Glens dieses Gebirges.
Das hatte auch Folgen für die Menschen, die die Gegend später besiedelten: Derjenige schottische Clan, der den Zugang zum Glen kontrollierte, besaß große Macht. "Sehen Sie da unten das piktische Fort", zeigt Cornfoot auf einen Hügel. Von dort aus haben die Fürsten des Piktenvolks vor über tausend Jahren die Gegend beherrscht.
Subarktische Insel mitten in Großbritannien
Je höher die Gruppe hinauf steigt, desto spärlicher wird die Natur. Der Atem geht schwerer. Schweigen. Das Grün versteckt sich in Ritzen und duckt sich unter den Felsen. Etwa der Tannenbärlapp, den der Ranger unter einem Steinvorsprung aufspürt. Schon zu Zeiten der Dinosaurier habe es solche farnartigen Pflanzen gegeben. "Die Cairngorms bilden eine subarktische Insel in Großbritannien selbst", erklärt Cornfoot. Im Winter ist das Gebirge ein beliebtes Skigebiet, Schnee liegt dort zum Teil bis Mai.
Die Wolken rasen über den Horizont, doch am Gipfel scheinen sie sich festzuklammern. Ein einsames Moorhuhn flattert plötzlich auf. Vom Steinadler, für den die Cairngorms so berühmt sind, ist weit und breit nichts zu sehen. Wenige hundert Meter vom Gipfel entfernt lockt die Bergstation der Cairngorm-Bahn mit ihren Sofas inklusive Panoramablick und heißen Getränken. Doch der Guide Cornfoot will weiter, zum Gipfel: "Wir können später zurückkommen. Wir sollten die Sonne ausnutzen." Denn nun brechen Sonnenstrahlen durch die dicken Wolken, Schatten und Sonnenfenster huschen über das Land.
Eine Wüste aus goldbraunen Grasbüscheln umgibt den Gipfel. Selbst hier findet das geschulte Auge des Rangers noch Moose und Pflanzen unter dem Granitschotter: "Hier ist alles belebt", sagt er. Dann aber bekommt der Wind immer mehr Kraft und die Stimme des Rangers ist kaum mehr zu verstehen - außerdem wird es verdammt kalt. Nach zwei Stunden sind die Wanderer am Ziel: Auf dem Gipfel dröhnt der Wind und schneidet auf der Haut. Aber plötzlich öffnen sich die Wolken und geben den Blick frei in das grandiose Tal, eine Belohnung für den Aufstieg. Man möchte einen Campingstuhl aufstellen und nur schauen, doch der Wind treibt alle vor sich her.
"Stellen Sie sich vor, hier oben ist seit der letzten Eiszeit praktisch nichts von Menschenhand verändert worden", schwärmt Cornfoot. Er zeigt auf das silbrig glänzende Loch Morlich und das ferne Flüsschen Avon , das nach Tormintoul führt. Dort profitieren die Whiskybrennereien vom weichen torfigen Quellwasser, das den Geschmack ihrer Brände so einzigartig macht.
Endlich ist er da: der Regen
Auf dem Gipfel des Cairn Gorm steht eine Windstation, die Geschichte geschrieben hat: "Hier wurde der stärkste Wind im Land gemessen", erklärt Cornfoot. 173 Meilen pro Stunde – das ist die maximale Hurrikan-Kategorie fünf. Kein Wunder also, dass die Ranger Wanderern raten, sich vor dem Aufstieg in ihrer Basis zu registrieren. Denn bei schlechten Wetterbedingungen haben sich schon zahlreiche Besucher in der Einsamkeit verirrt und sind in große Gefahr geraten. "Das Wetter ist hier so wechselhaft, das wird unterschätzt", so Cornfoot. Auf minus drei Grad taxiert er die Windtemperatur. Wohlgemerkt, es ist Ende September.
"Ich kann es nicht glauben wie kalt das war", keucht Tourenmitglied Alex Velam als sie sich in die Station der Bergbahn hineinflüchtet. Dort steht ein Herr im Kilt und begrüßt die Gäste. Bei heißem Essen mit Blick auf die Landschaft lassen die Wanderer den Tag Revue passieren: Anstrengend war's, aber schön. Auf dem Abstieg geht es dann schneller, entlang der Versorgungswege, vorbei an endlosen hölzernen Schneefängern. Und dann ist er endlich da, der obligatorische Regen. Willkommen in Schottland.