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Reportage

Badeurlaub zwischen Baggern

Zeit Online | 18.06.2014    Das Meer nagt an Frankreichs Atlantikküste: Strände verschwinden im Wasser, Feriendomizile sind einsturzgefährdet. Der Kampf um den Strand gleicht einer Sisyphosarbeit.


Meeresrauschen mischt sich mit Baggerlärm. Lkw karren große Kalksteine an den Strand. Wenn die Steine auf die Düne fallen, bebt die Erde. Oben, am Rand der Düne, steht Pierre-Gilles Sauvaget und beobachtet die Bauarbeiten. "Wir haben im Winter über zehn Meter Land an das Meer verloren", sagt der Campingplatzchef. Jetzt entsteht unten am Strand ein Schutzwall.

"Mit den Füßen im Wasser", damit wirbt die Vier-Sterne-Camping-Kette Sandaya in der Nähe des französischen Badestädtchens Soulac-sur-Mer am Atlantik. Doch in diesem Winter hat das Motto einen bitteren Beigeschmack bekommen. Die Stürme und Wellen waren im Dezember und Januar außergewöhnlich heftig. Sauvaget stand auf seinem Zeltplatz und musste zusehen, wie das Wasser Meter für Meter Land abtrug. Tonnenweise ließ er Sand herankarren und an die Küste schütten – wohlwissend, dass das wenig hilft gegen die Wucht der meterhohen Wellen. Sauvaget ist gebürtiger Bretone, er kennt das Meer. Doch so kraftvoll wie in diesem Winter hat er es noch nie erlebt.  

Frankreichs Region Aquitaine lockt Jahr für Jahr zahlreiche Urlauber mit Sandstränden und Dünen auf einer Länge von 238 Kilometern. Doch wenn in diesen Wochen die Touristen zu den Campingplätzen zurückkehren, werden sie manches verändert vorfinden. Vielerorts stehen Strandhütten bis zur Hälfte im Nichts, ihnen wurde buchstäblich der Boden weggezogen. Manche Stege und Wege zum Strand sind verschwunden, sanft zum Meer verlaufende Dünen zu abrupt abbrechenden, gefährlichen Sandwänden geworden, aus denen abgerissene Kabel, Plastikwasserrohre und Baumwurzeln gespenstisch ins Nichts ragen. Nur im Juli und August werden die Bagger bei Soulac-sur-Mer Pause machen – damit sie zur Hauptbadesaison die Badegäste nicht nerven.

Sauvaget deutet hinaus aufs Meer zu einigen schwarzen Punkten, rund hundert Meter entfernt. "Das sind die Bunker, die die Deutschen einst in der Düne gebaut haben." Längst sind die Betonkolosse aus dem Krieg im Meer versunken. Doch bei Ebbe werden sie zum Zeichen dafür, dass das Meer sich stetig Land einverleibt.


Dämme bringen Bewegung des Meeres aus dem Gleichgewicht


Erosion ist ein natürliches Phänomen, 50 Prozent der französischen Küsten sind davon betroffen. Steilküsten brechen ab, Stürme, Überschwemmungen und Wellen nehmen Sand mit – und bringen ihn zum Teil im Frühling und Sommer wieder zurück. In der Aquitaine weicht das Land jährlich durchschnittlich einen bis drei Meter zurück – an manchen Stellen bis zu zehn Meter.

Doch auch der Mensch hat Schuld an dem Landverlust. Der Badetourismus, das Errichten von Dämmen, Wellenbrechern und Häfen bringt die natürlichen Bewegungen von Sand und Geröll durch die Meeresströmungen aus dem Gleichgewicht. Gleichzeitig verhindern Staudämme im Hinterland, dass mit den Flüssen neues Gestein aus den Bergen ins Meer gelangt. Die Folge: Das Meer holt sich das im Sedimentkreislauf fehlende Material von den Stränden. Auch die Klimaerwärmung spielt eine Rolle: Die Stürme werden stärker, der Meeresspiegel steigt an.

Dass Frankreich schrumpft, sieht man auch auf der Strandpromenade von Soulac. Dort steht ein Geisterhaus: Le Signal heißt das fünfstöckige Wohnhaus. Alle 78 Besitzer mussten ihre Wohnungen oder Ferienresidenzen verlassen. Le Signal ist einsturzgefährdet. An einem Fenster hat jemand mit weißer Farbe in großen Lettern Schimpftiraden gegen den Bürgermeister geschrieben. 

 Als der Gebäudekomplex 1967 gebaut wurde, stand er noch 200 Meter vom Strand entfernt – heute sind es 16 Meter.  "Wir hatten hier einen schlimmen Katastrophentourismus", erinnert sich Benjamin Bardineau, Chef de Cabinet im Rathaus. "Hunderte Franzosen kamen im Januar und warteten mit der Kamera in der Hand darauf, dass der Bau ins Meer kracht." Doch das Signal steht noch. Einst für Familien ein Zweitwohnsitz mit Meerblick, ist der Bau nun eine Gefahr für das Meer. "Das Gebäude ist mit Asbest belastet", sagt Bardineau. "Es wäre eine ökologische Katastrophe, wenn es ins Meer stürzt." Deswegen muss Le Signal nun abgerissen werden. Nie hätte man so nah am Meer bauen dürfen. Die Besitzer streiten sich mit der Stadt und dem Staat über die Entschädigungssummen für ihre Wohnungen.

"Wir führen einen Kampf gegen das Meer", sagt Bardineau. Soulacs Zentrum liegt direkt am Wasser – und der Badeort fürchtet um seinen sieben Kilometer langen Stadtstrand. Die Menschen hier leben vom Tourismus. Bagger schieben jetzt bei Ebbe den Sand von draußen ran an die Stadt. Zwischen den aufgeschütteten Sandhügeln liegen Touristen und sonnen sich.

"Wir sind auf der Suche nach 600.000 Kubikmetern Sand, den wir wieder aufspülen wollen", sagt Bardineau. Doch Strandsand ist in der Gegend längst zu einem begehrten Gut geworden. Das Rathaus streitet sich mit Anbietern über die Preise, manche wollen zehn Euro pro Kubikmeter – "das ist zu viel", findet Bardineau. Drei bis vier Millionen Euro können Soulac und die angrenzende Gemeinden höchstens ausgeben. Die Regierung hat bereits zwei Millionen Euro Soforthilfe für die Region versprochen. 


Eine Fläche, so groß wie 3.000 Fußballfelder, verschwindet im Meer


Längst aber heißt es in der Aquitaine nicht mehr: Land schützen um jeden Preis. Man hat eingesehen, dass der Küstenstrich nicht starr ist. Das Meer holt sich trotz Barrikaden oft, was es will. Es umspült neue Dämme einfach. "Wir müssen in Sachen Erosion  vorausschauen, damit solche plötzlichen Evakuierungen wie bei Le Signal nicht mehr nötig sind", sagt Bardineau. In der Aquitaine beobachten deswegen jetzt Region, Kommunen und Staat gemeinsam den Landverlust. Karten sollen zeigen, wo und wann das Meer am stärksten nagt. Wo muss man langfristig dem Meer nachgeben, wo Dämme bauen, weil für die Menschen zu wichtige Gebäude oder touristische Einnahmen verloren gehen würden?

In den nächsten 30 Jahren wird die Region Aquitaine eine Fläche von etwa 3.000 Fußballfeldern Land ans Meer verlieren. Allein im Département Gironde sind 240 bewohnte Gebäude in Gefahr. Man bereitet sich vor: Bis 2050 müssen an der Küste des Badeorts Lacanau Hunderte von Familien umziehen. In Teste-de-Buch in der Nähe der berühmten Düne von Pilat werden fünf Campingplätze ins Landesinnere verlegt.

Benjamin Bardineau seufzt. Auch der aufgespülte Sand in Soulac kann, wenn es schlecht läuft, schon bald wieder verschwunden sein. "Wissen Sie, gegen die Natur können Sie nur begrenzt etwas unternehmen."