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Reportage

Kampf dem Wildwuchs

Badische Zeitung | 28.10.2017
In einem französischen Barockgarten regiert geometrische Strenge. Zu Besuch bei den Gärtnern von Schloss Vaux-le-Vicomte bei Paris.


Sie wühlten neben dem Winter. Die Wildschweine kamen in der Nacht, rissen mit ihren Schnauzen Löcher in den gepflegten Rasen direkt neben der Gartenstatue aus dem 17. Jahrhundert, die mit Holz in der Hand die kalte Jahreszeit symbolisiert. Jetzt klaffen dunkle Erdwunden im hellem Rasengrün.

Patrick Borgeot bremst sein Elektromobil und betrachtet den Schaden. Die Wildschweine kämen vor allem im Herbst nachts aus dem Wald, sagt der Chefgärtner von Vaux-le-Vicomte. Sein Gärtnerteam wird anrücken müssen, um dieses Rasen-Massaker zu beseitigen.  "Das ist demoralisierend", sagt er. Denn man wisse: Die Tiere kommen wieder, auch wenn einer der Schlossbesitzer sie hin und wieder jage.

Borgeot fährt weiter, vorbei an Buchskegeln und am Brunnen der zentralen Mittelachse des Gartens. Sein "Club Car" summt, unter den breiten Reifen knirscht der Kies der Parkwege. Es ist kurz nach acht Uhr, der 50-Jährige mit grauem Haar macht seine morgendliche Schlossgarten-Kontrolltour mit Sonnenbrille und Elektrozigarette, in braun-grüner Outdoor-Jacke, Jeans und schwarzen Turnschuhen. Nächster Stopp: das Blumenparterre.

In knapp zwei Stunden werden die ersten Besucher und Schulklassen eintreffen in Vaux-le-Vicomte, dem berühmten Schloss 50 Kilometer südöstlich von Paris. Bis dahin muss er wissen, ob in dem Barockgarten alles der strengen Ordnung entspricht. Am Tag zuvor war es stürmisch und regnerisch. Borgeot hält an und wetzt zu den Pflanzen. Dahlien, Kosmeen, Wiesensalbei, Hibiskus, Fleißiges Lieschen: Sie stehen da exakt in Reihen und diagonal, aber nicht alle wie eine Eins. Manche hat der Wind umgeknickt.

10.000 Pflanzen ordern die sieben Gärtner von Vaux-le-Vicomte im Jahr. Viel kreativen Gestaltungsspielraum haben sie nicht. "Wir haben strikte Vorgaben", sagt Borgeot,  "in einem französischen Garten ist unsere Rolle eher die der Pflege." Doch hier bei den Blumenbeeten dürfe sein Team Akzente setzen, was Farbe und Höhe der Pflanzen angehe. Blaue, rosa und weiße Blüten dominieren dieses Jahr. Borgeot steckt die Hand in das Erdreich, um zu testen, ob er die Bewässerungsanlage einschalten muss. Dann säubert er sie am morgenfeuchten Rasen, springt auf sein Club Car und nimmt mit seinem Smartphone auf: "Kosmeen umgeknickt, müssen wir austauschen."

Als junger Mann hat Borgeot einst in der Pariser Region eine Landwirtschaftschule besucht. Bereits sein Vater war Gärtner, nach der Ausbildung arbeitete er in dessen Landschaftspflege-Betrieb mit. Später leitete er selbst 20 Jahre so einen Betrieb, bevor er wegen der schlechten Auftragslage diesen aufgab und 2007 seine jetzige Stelle annahm. Für Vaux-le-Vicomte zu arbeiten, das erfülle ihn mit Stolz, sagt er. Dieser Garten sei schließlich eine wichtige Etappe in der Geschichte der Gartenkunst gewesen.Es war der damalige Oberintendant der Finanzen unter dem jungen König Ludwig XIV., Nicolas Fouquet (1615-1680), der sich mit Vaux-le-Vicomte im 17. Jahrhundert einen prachtvollen Traum verwirklichte. Er versammelte die großen Künstler seiner Zeit, um dieses Anwesen von 1656 bis 1661 zu erschaffen: den Architekten Louis Le Vau, den Maler und Dekorateur Charles Le Brun et den Gärtner und Landschaftsarchitekten André Le Nôtre.

Dieses Trio hatte damals das, wovon Architekten meist nur träumen können: einen Auftraggeber, der ihnen für dieses Gesamtwerk freie Hand ließ. Sie erschaffen ein harmonisches, prachtvolles Ensemble von Schloss und Garten, an dem sich die Mächtigen in ganz Europa orientierten. Das Vaux-Trio unterwarf Anfahrt, Schloss, Nebengebäude und Garten einer nie dagewesenen strengen, an einer Achse orientierten Ordnung. Sicher: Terrassen, Alleen, Brunnen, Parterres, Perspektiven, Grotten, Wasserkünste – all diese Gartenelemente gab es schon vorher. Aber Le Nôtre fügt sie für Vaux-le-Vicomte zu einem Gesamtbild zusammen.

Sagenumwoben ist das opulente Fest am 17. August 1661: Gast König Ludwig XIV. ist so begeistert, dass er die selben drei Männer für den Bau des Schlosses und der Gartenanlage in Versailles verpflichtet. Vorher lässt er Fouquet nach einem Komplott zu lebenslanger Haft verurteilen. "Ohne Vaux-le-Vicomte wäre Versailles nicht das, was es ist", sagt Patrick Borgeot.

Natürlich weiß er: Versailles ist eine ganz andere Schlossgarten-Liga. Während dort rund 80  Gärtner tätig sind, komme sein Sechs-Mann-Team kaum hinterher, der Natur Grenzen aufzeigen. Am Morgen hat Borgeot den Kollegen bereits im Technik-Hangar ihre Aufgaben zugewiesen. Ein Viererteam schneidet seitdem die weißen Granville-Rosen im Innenhof des Besuchergebäudes, sie lassen die Blüten hängen. Die anderen beiden sind am Broderie-Parterre vor der Südfassade des Schlosses unterwegs. Mit einem Rasentrimmer stutzt der eine die Rasen-Kanten gerade, der andere jätet Unkraut mit der Hand. "Wir mögen unsere Arbeit, aber wir sehen ständig, dass wir zuwenig Leute sind", klagt der Chefgärtner.

Ob Ackerwinde, Gänsedistel, Löwenzahn, Gänseblümchen: Unkraut sprießt auf den Kieswegen, es schmiegt sich an die Skulpturen-Podeste, es lässt die Enden der Rasenflächen ausgefranst aussehen. Zum Glück gibt es heute Verstärkung: Borgeot begrüßt drei Frauen, die mit grünen Eimern zu den Broderien am Fuße des Schlosses laufen. Auf ihren Westen steht "Ehrenamtliche". Die Damen aus dem Verein "Freunde von Vaux-le-Vicomte" verstärken die Unkraut-Task-Force.

Gemeinsam führen sie den tagtäglichen Kampf, die Natur im Barockgarten zu disziplinieren: Ihrem Wachstum Grenzen aufzuzeigen, ihrer Lust zu wuchern Einhalt zu gebieten oder gemäss bestimmter Formen zu wachsen. "Wir sind die kleinen Ameisen, die täglich ihr Tagwerk tun auf lange Sicht", sagt Borgeot. In einem französischen Garten gehe es um stetige Basis- und Feinarbeit.

Aber auch um radikale Schnitte. Auf der Westseite des Gartens an den Hecken übertönt Maschinenlärm das morgendliche Vögelgezwitscher.  Auf einer Hebebühne steht ein Mann und schneidet mit einer Motorschere präzise die obere Heckenseite. Ein Traktor fährt den Hecken entlang und schneidet mit einem Heckenscheren-Arm das Blattwerk kerzengerade – ein Laser sorgt für Präzision. Solche größeren Mäh- und Schnittarbeiten haben die Schlossbesitzer schon vor vielen Jahren an eine externe Firma abgegeben. Deren Männer arbeiten konzentriert. Denn ungerade Schnitt-Patzer und Heckenlöcher sind Tabu in einem Barockgarten.

Borgeot zieht an seiner E-Zigarette, er blickt über die Hauptachse an das Ende des 33 Hektar großen französischen Gartens zur goldenen Herkulesstatue. Stress und Stolz liegen für ihn an diesem Arbeitsplatz nah beieinander. Strenge ja, Symmetrie ja, Hierarchie ja. Aber Le Nôtre lasse dennoch in dem Garten keine Monotonie aufkommen. "Er überrascht uns, täuscht unsere Sinne immer wieder, je nachdem, wo wir uns im Garten aufhalten", sagt er fasziniert. Manche Querkanäle und Seitenachsen werden wegen der Höhenunterschiede der Terrassen für die Besucher erst sichtbar, je weiter sie sich im Garten fortbewegen. Borgeot spricht von der "perspective ralentie", der perspektivischen Täuschungen. Um der optischen Verkleinerung von Gartenelementen entgegenzuwirken, habe Meistergärtner Le Nôtre zum Beispiel hintere Wasserflächen größer angelegt als die vorderen.

Es ist ein kleines Wunder, dass dieser Garten bis auf wenige Veränderungen noch so ist, wie er einst von André Le Nôtre gestaltet wurde. Jahrzehntelang war das Anwesen dem Verfall anheimgegeben. Doch 1875 ersteigert der reiche Zuckerfabrikant Alfred Sommier Schloss und Garten. Der Kunstliebhaber lässt Vaux-le-Vicomte aufwändig restaurieren und den stark verwilderten Garten retten. Sommiers Sohn Edme und dessen Frau Germaine Casimir-Perier bewahrten dieses Familienerbe.

Heute besitzen die de Vogüés, eine fast 1000 Jahre alte französische Adelsfamilie, dieses "patrimoine", wie die Franzosen ehrfurchtsvoll Kulturerbe und nationale Denkmäler nennen. Der Urenkel von Alfred Sommier, Patrice de Vogüé, erhielt das Anwesen 1967 als Hochzeitsgeschenk. Ihm wurde klar: Der Unterhalt verschlingt immense Summen. Im Mai 1968 öffnete er deshalb Schloss und Garten für Besucher. Später kommen eine Souvenir-Boutique und ein Restaurant dazu. Aus dem abgeschirmten privaten Familienschloss wird ein Unternehmen mit inzwischen 70 Angestellten.

Sohn Alexandre de Vogüé (48) steht in Sneakers und T-Shirt mit Bergmotiv im Vorzimmer des Königs und blickt durch ein Schlossfenster hinaus auf den Garten. Hinter ihm laufen Schlossbesucher vorbei, die die prachtvollen Räume und Antiquitäten bestaunen. Vor fünf Jahren haben er und sein Zwillingsbruder Jean-Charles die Leitung von ihrem Vater Patrice übernommen, etwas später schloss sich ihnen auch ihr Bruder Ascanio an. Sie sind die fünfte Generation der Familie, die sich um das Anwesen kümmert.

Die drei Brüder wuchsen im Schloss auf. Damals wurde das Vorzimmer des Königs noch als Wohnzimmer für die Familie genutzt, hier stand der Fernseher. "Wir mussten ihn immer während der Öffnungszeiten verstecken und auch unsere Spielsachen wegräumen", erinnert sich de Vogüé. Heute wohnt die Familie im östlichen Wirtschaftsgebäude.

300.000 Besucher kommen im Jahr nach Vaux-le-Vicomte – nach Versailles pilgern siebeneinhalb Millionen. Für Alexandre de Vogüé kein Grund, neidisch zu werden, im Gegenteil. Er spricht von der menschlichen, familiären und überschaulichen Dimension von Vaux-le-Vicomte, welche die Besucher schätzten.  "Vaux hat eine Seele", sagt er.

Und Vaux hat seinen Preis. Das größte private Anwesen in Frankreich, was als historisches Denkmal klassifiziert ist, erfordert hohe Summen für den Unterhalt und hat einen Jahresumsatz von acht Millionen Euro. Allein 1,3 Millionen Euro verschlingen im Durchschnitt jährliche Restaurierungsarbeiten im Schloss und im Garten,  weitere 500.000 Euro kostet der Unterhalt des Gartens.

Er und seine Brüder müssen langfristige Restaurierungspläne machen, Mäzene suchen, Subventionen beantragen, Besucher anlocken. Die Schlossherren-Brüder lassen derzeit einen Zustandsbericht für das gesamte Anwesen erstellen, um zu wissen: Wann wird welches Dach, welcher Brunnen oder welche Wasserleitung restauriert werden müssen? All das erfordere viel Disziplin, de Vogüé. Doch seine Eltern hätten ihm beigebracht, dass man als Aristokrat vor allem Pflichten statt Rechte habe.

Das kulturelle und touristische Angebot rund um Paris ist groß, die de Vogüés müssen sich etwas einfallen lassen: Kostümtage, Sommerabende mit 2000 Kerzenlichtern, Abenteuer-Touren für Kinder, Ostereier-Suchen und Weihnachtsevent, Seminare und Schloss-Dîners. Hin und wieder wird das Anwesen verliehen für Hochzeiten und Filmdrehs: Der Stahlmagnat Lakshi Mittal buchte das Anwesen 2004 für die Hochzeit seiner Tochter Vanisha. Szenen für Kinofilme wie "Moonraker" (James Bond) oder "Der Mann in der eisernen Maske" mit Leonardo DiCaprio wie auch die Serie "Versailles" wurden in Vaux-le-Vicomte gedreht.

Nicht immer sind die Brüder einer Meinung, wie die Vision für die Zukunft des Anwesens aussehen soll. Aber es gehe ihnen allen darum, um diesen für die Geschichte Frankreichs wichtigen Ort zu erhalten, sagt Alexandre de Vogüé. Empfindet der Schlossherr, der eine Ausbildung auf einer Pariser Managementschule machte und früher als Hochgebirgsführer in Chamonix arbeitete,  dieses Erbe nicht als Last auf seinen Schultern? Er selbst habe für sich einen Weg gefunden, mit dieser Last umzugehen, sagt er. Indem er Tag für Tag, Jahr für Jahr plane und arbeite. "Unsere Generation allein kann nicht alles restaurieren und reparieren. Aber wir können der nächsten Generation Vaux-le-Vicomte in einem guten Zustand übergeben."

Draußen im Garten sorgt sich derweil Chefgärtner Borgeot um den Zustand der kunstvoll geschwungenen Buchsornamente südlich des Schlosses. Diese Broderien sind das prunkvollste Element eines jeden französischen Gartens. Statt saftig grün sind sie an vielen Stellen braun, gar hölzern und voller Lücken. Diese sorgsam geschnittenen Buchs-Hecken sind nicht nur altersschwach, sie leiden seit langem unter einem Schadpilz und den Buchsbaumzünsler-Raupen, die Blätter und Rinde abfressen. Im Frühjahr hätten sie auch noch Frost abbekommen. "Wenn ich die so sehe, macht mich das traurig", klagt Patrick Borgeot.

260.000 Buchspflanzen wachsen im Garten von Vaux-le-Vicomte. Einmal im Jahr werden sie sorgsam geschnitten. Die Buchspflanzen auszutauschen und neu zu pflanzen, würde allein für die beiden Buchs-Broderien mehr als zwei Millionen Euro kosten. Also versucht man es derzeit mit Pheromonfallen für den Zünsler und wartet darauf, dass Wissenschaftler resistentere Pflanzen oder bessere Behandlungsmöglichkeiten erfinden.  

Ein paar Mal im Jahr, wenn Patrick Borgeot während der Arbeit Abstand gewinnen will von Unkraut und Ungeziefer, dann steigt er hoch auf die Kuppel des Schlosses. Von dort blickt er auf die Schönheit des Ensembles, alles Unperfekte ist dann zu klein, um es wahrnehmen zu können.

Es sei lächerlich, zu denken, man könne die Natur im Griff haben, sagt Borgeot. "Wir Gärtner können sie ein bisschen disziplinieren, aber kaum machen wir Pause, ergreift sie sich wieder ihren Raum." Dann blickt er über den Garten von Vaux hinweg zum  angrenzenden Wald, der zu Zeiten Fouquets noch nicht existierte. In der Ferne am Horizont taucht die Müllverbrennungsanlage des Städtchens Melun auf. Das Leben gehe weiter jenseits des französischen Gartens, sagt Borgeot. Darin herrscht statt strenger Ordnung das alltägliche Durcheinander des 21. Jahrhunderts. Und das beruhige ihn dann ein bisschen.  


INFO

Ohne Auto ist Vaux-le-Vicomte von Paris aus gut erreichbar mit dem Vorortzug Richtung Provins ab dem Ostbahnhof Gare de l´Est. Von der Station Verneuil l`Etang fahren Shuttle-Busse. Informationen auf der Website www.vaux-le-vicomte.com.