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Die Zeit  | Oktober 2017
Jobs bei der EU sind sehr begehrt. Johanna Murphy hat einen bekommen: Sie arbeitet als Dolmetscherin im Europaparlament. Ein Besuch in ihrer Kabine.

Sie muss sich oft gegen schwere Türen stemmen. Es sind Schutzwälle gegen Lärm. Johanna Murphy drückt die Tür auf und tritt in einen dunklen Flur, eine weitere Tür führt in ihre schalldichte Dolmetscherkabine.

Ein Papierkorb, ein Kleiderhaken, etwas Licht fällt an diesem Sommertag in die Kabine – oft arbeitet Murphy nur unter künstlichem Licht. Sie blickt durch die Glasscheibe in den Sitzungssaal JAN 4Q2 im Brüsseler Europaparlament: lange Sitzreihen im Halbrund, am Eingang eine Europaflagge. Ihre Kunden treffen ein. So nennt sie die Menschen, für die sie gleich dolmetschen wird.

Johanna Murphy, 37 Jahre alt, 1,81 Meter groß, Kroko-Rock und Ballerinas, legt ein Tablet und einen Kugelschreiber auf den schmalen Schreibtisch. Wasserflaschen stehen neben jedem der vier Dolmetscher-Plätze. Es gibt zwei Bildschirme, sie zeigen die Sprecher in Nahaufnahme. Sie steckt ihren Kopfhörer in die Apparatur mit dem Mikrofon. An ihrer Kabine leuchtet in Rot DE 01.

Als sie neu war in Brüssel, vor zehn Jahren, empfand sie jeden Tag wie eine Prüfung. „Wir Dolmetscher sind exponiert, ich dachte, jeder merkt, wenn ich einen Fehler mache.“ Aber daran gewöhne man sich schnell. Dolmetscher müssten Kommunikation ermöglichen und dabei nicht auffallen. Murphy vergleicht das Simultandolmetschen mit einer Achterbahnfahrt: Es gibt kein Zurück. „Ich muss dolmetschen, was auf den Tisch kommt und das Beste draus machen.“

Murphy studierte am Institut für Übersetzen und Dolmetschen an der Universität Heidelberg, arbeitete eineinhalb Jahre freiberuflich in Brüssel für alle EU-Institutionen. Dann bestand sie das harte Auswahlverfahren für die Beamtenstellen. Seit 2009 ist sie fest angestellte Dolmetscherin.

Dolmetscher übersetzen überwiegend in ihre Muttersprache – das ist bei Johanna Murphy das Deutsche. Sie überträgt aus dem Englischen, Französischen, Polnischen und Kroatischen.  

Die Sitzung beginnt. Nur ein Kollege sitzt heute neben ihr. Dolmetscher wechseln sich spätestens nach dreißig Minuten ab, weil die Arbeit sehr ermüdend ist. Ihre Kabinenkollegen wirkten beruhigend. Man sei ein Team, da kritzele man schon mal schnell ein Fachwort auf einen Zettel, um zu helfen.

Auf der anderen Seite der Glasscheibe sitzen heute Europaabgeordnete, Vertreter von Unternehmen und Verbraucherschutzorganisationen, Experten: Es ist eine Sitzung des Verbraucherausschusses. Murphy muss Fachvokabular mögen: Es fallen Wörter wie E-Commerce-Richtlinie, Internet-Intermediäre, Haftung von Online-Dienstleistern.

Aus Liebe zu den Sprachen wollte sie Dolmetscherin werden. Und von Anfang an in einer der EU-Institutionen arbeiten, sagt sie. Weil sie es mag, nah dran zu sein am Weltgeschehen. Ob Brexit, Türkei-Referendum, Eurokrise: Im Europaparlament wird darüber debattiert. „Ich erlebe spannende Einblicke, die nicht jeder bekommt.“

Vorbereitung ist für Simultandolmetscher extrem wichtig. Ob Regulierung des Finanzmarkts, Energiemarkt, Pestizide: Die Dolmetscher beginnen häufig schon am Vortag mit einer allgemeinen Vorbereitung: sobald sie die Sitzungsdokumente bekommen, beginnt die heiße Vorbereitungsphase. Früher hatte Johanna Murphy Vokabellisten zu bestimmten Themen griffbereit, heute schaut sie in ein Online-Wörterbuch.

In der Kabine hat sie dennoch Notizzettel. Ihre Hände bekräftigen ihre Übersetzung, als wäre sie selbst die Vortragende. Sie ist so konzentriert, dass sie es nicht mitbekommt, wie ihr Kollege neben ihr ein Käsebrötchen verdrückt.

In Murphys Job geht es nicht nur darum, Sprachen zu beherrschen. Murphy erzählt von Techniken wie Antizipation, Analysefähigkeit, Multitasking. Sie schaut stets den Sprecher an, um Gestik und Mimik mitzubekommen. „Ich muss herausfinden, wie der Redner sich bei einer Debatte positioniert, dann weiß ich auch, was er vielleicht sagen wird.“  Im Privaten komme diese Dolmetscher-Eigenschaft nicht immer gut an, sagt sie: „Manchmal lasse ich Freunde nicht ausreden, weil ich weiß, was kommt.“

Johanna Murphy arbeitet nicht nur in einer dieser 450 Kabinen. Sie flüstert in Abgeordnetenohre in Restaurants oder auf Reisen. Sie dolmetschte in Österreich an einem steilen Berghang oder in irischen Fischfabriken.  Murphy ist mit einem Iren verheiratet, sie wohnt in Brüssel, arbeitet mehrere Tage im Monat im Straßburger Europaparlament. Sie sagt: „Ich bin unterwegs in unterschiedlichen Kulturen, das ist himmlisch.“ Die EU-feindlichen, nationalistischen Kräfte machen ihr Sorgen. „Für mich ist die EU auch eine Wertegemeinschaft. Ich freue mich, wenn es jemandem gelingt, Populisten mit Argumenten zu entzaubern. Aber letztlich muss ich die Rhetorik einer Marine Le Pen genauso herüberbringen wie ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa.“

Zensieren dürfen Dolmetscher nicht, aber in manchen Fällen übersetzen sie einen Kraftausdruck wie „Scheiße“ mit  „Mist“. Das Deutsche habe ein schönes Register an Worten, um Beleidigungen ein bisschen abzumildern, sagt Murphy.

Die Sitzung ist fast pünktlich zu Ende. Draußen, auf der Place du Luxembourg sitzen in den Bars EU-Mitarbeiter beim Feierabendbier. Murphy muss ihre zehn Monate alte Tochter in der Kita abholen. „Sie raubt mir zwar Schlaf, aber ihr Dadada ist für mich ein angenehmer Ausgleich zum EU-Sprech.“

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Die Brüsseler Institutionen EU-Parlament, Rat und Kommission haben den größten Dolmetscherdienst der Welt. Allein für das Europaparlament arbeiten rund 300 festangestellte und 1450 freie Dolmetscher. Im Europaparlament werden 24 offizielle Sprachen gesprochen, das ergibt 552 Sprachkombinationen. Dolmetscher in Brüssel verdienen als EU-Beamte am Anfang rund 4300 Euro, dazu können noch diverse Zuschläge kommen.