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Aufruf gegen die globale Ohnmacht

Die Wochenzeitung, Zürich | 12.05.2016  Innert sechs Wochen hat sich die Protestbewegung Nuit Debout von Paris aus im ganzen Land ausgebreitet. Am 15. Mai 2016 soll die Aktion internationalisiert werden.


Mehrere Dutzend Leute verlassen ihren Sitzkreis auf der Pariser Place de la République. Bei der Mariannenstatue inmitten des Platzes formieren sie sich: Die vorderen Reihen knien auf dem Boden, die in der Mitte posieren halb aufrecht, die Stehenden strecken die geballte Faust in die Höhe. «Die Fotografen können jetzt loslegen», sagt Renaud Fossard (32). Klick, klick, klick. «Danke, wunderbar.» Die Leute klatschen und rufen: «Erhebe dich, Welt, steh auf!» Fossard, beruflich für einen Verein gegen Werbung tätig, hilft mit, die Pariser Bewegung Nuit Debout über die nationalen Grenzen hinaus zu tragen: Am 15. Mai möchte sie als Global Debout weltweit Wellen schlagen, in einem globalen Aktionstag für «Gerechtigkeit und echte Demokratie». Und dieses Foto soll dafür auf Facebook und Twitter werben.

Längst sind aus denen, die die Nacht durchmachen, sind aus den Aufrechten der Nacht auch Tagesaufrechte geworden. Schon am Mittag diskutieren sie über Politik und die Welt. Zuerst waren die Proteste gegen die sozialistische Regierung der Auslöser, die das Arbeitsrecht reformieren will, und dabei jetzt sogar das Parlament umgeht. Doch längst hat sich Nuit Debout thematisch geöffnet. An manchen Tagen debattieren Dutzende der achtzig Kommissionen auf dem grossen Platz. Auch heute sitzen auf dem grauen Steinboden locker verteilt Gruppen im Kreis. Sie diskutieren, wie der Kapitalismus überwunden werden kann, über Feminismus, das Verhältnis zu Europa, über die Unterstützung der Flüchtlinge, die Rechte der Tiere, aber auch, wie ein Generalstreik zu organisieren wäre. Jeder darf ans Mikro. Statt zu klatschen, wackelt man mit den Händen.

Ob Global Debout funktioniert bei diesem Themensammelsurium? «In einer globalisierten Welt ist es zunächst logisch, dass Nuit Debout nicht auf Frankreich beschränkt bleiben sollte», sagt Renaud Fossard. Wo das hinführt? Achselzucken. «Wir haben es nicht eilig.» Doch schon bald soll ein Manifest erarbeitet sein.

Kampf gegen soziale Schere

Heute ist Netzwerken angesagt. 200 AktivistInnen aus Europa und anderen Kontinenten sind gekommen. Marie (28), die ihren Nachnamen nicht nennen will, von der antikapitalistischen Vereinigung Communia Network aus Mailand, berichtet im Workshop «Alternativen», wie entlassene ArbeiterInnen in Italien ihre in Konkurs gegangene Fabrik übernommen haben. Valentine Loup (27) ist mit Freundinnen aus Lausanne angereist. Sie ist Mitglied bei Solidarités und setzt sich für Flüchtlinge ein. In der Schweiz hätten es radikale linke Bewegungen schwer. Dass Nuit Debout schon mehr als einen Monat existiere, mache ihr aber Mut.

«Vor allem das akademische Prekariat, Leute aus dem Kleinbürgertum, die keine Arbeit finden, sich von Praktikum zu Praktikum hangeln oder mit befristeten Verträgen herumschlagen, kommen hierher», sagt der Pariser Soziologe Manuel Cervera-Marzal, der soziale Bewegungen erforscht. Doch das allein erklärt nicht, warum so viele Leute täglich hier sind. In einer Zeit der Individualisierung stehen diese Leute für ein Gemeinschaftsgefühl ein – und dafür, dass die Verhältnisse, wie sie sind, so nicht weiterbestehen sollen.

Auch Arthur Thomas sieht das so. Der 21-jährige angehende Erzieher ist aus Grenoble angereist, wo, wie in zahlreichen anderen französischen Städten, Nuit Debout Fuss gefasst hat. 2012 hat er Hollande und die Sozialisten gewählt, heute ist er entsetzt: «Ich habe den Eindruck, dass uns die Unternehmen regieren und nur Rentabilität zählt. Die politische Elite missachtet uns!» Als der frühere konservative Präsident Nicolas Sarkozy kürzlich sagte, die Leute auf der Place de la République hätten «nichts im Hirn», war das für viele hier eine Bestätigung dafür, wie weit «die da oben» sich von «denen da unten» entfernt haben.

Die Banlieue hat keine Zeit

Der 15. Mai, der globale Aktionstag, ist bewusst gewählt. Einige der Aufrechten nennen sich auch die Empörten – in Anspielung auf die spanischen Indignados, die am 15. Mai 2011 in Madrid mit ihren Protesten begonnen hatten. Daraus ist die Partei Podemos entstanden. Das Besetzen öffentlicher Plätze und die Forderung nach mehr Demokratie machen auch Ähnlichkeiten zur Occupy-Bewegung von 2011 und 2012 deutlich.

Doch Nuit Debout ist sich seiner Schwächen bewusst. Dass in Frankreich mit seiner vielfältigen Linken eine Partei wie Podemos entstehen wird, hält Manuel Cervera-Marzal für unwahrscheinlich. Auch erreicht die Bewegung kaum die ArbeiterInnenschicht: Der globale Funkenflug ist wahrscheinlicher als das Anbandeln mit sozial schwächeren Schichten in wenige Kilometer entfernten Vorstädten. «Viele Leute in der Banlieue müssen sich ums Überleben kümmern, haben keine Zeit oder wollen nicht inmitten von Intellektuellen und Kulturschaffenden demonstrieren», sagt Cervera-Marzal.

Spät am Abend herrscht Partystimmung unter den mehreren Hundert Menschen. Die Generalversammlung hat Organisatorisches zu Ende diskutiert. Es riecht nach Falafel, hie und da nach Joints, der Ordnungsdienst hält Betrunkene in Schach. Ein Saxofon erklingt, afrikanische Trommelklänge. Ein Grieche tritt ans Mikrofon und sagt, die Aufbruchstimmung hier erinnere ihn an den Syntagmaplatz in Athen. Alle jubeln.