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"Frankreich befindet sich im Krieg"

Welt online - Politik  | 14. November 2015


Die Anschläge von Paris haben ein ganzes Land in den Ausnahmezustand versetzt. Mit fast 130 Todesopfern und sieben Anschlagsorten ist die Lage in Paris noch unübersichtlich. Ein erster Zwischenstand.


Ein großes Loch in der Schaufensterscheibe, Splitter zwischen den Stühlen auf dem Gehsteig. Das Le Petit Cambodge ist Ziel der Attentäter geworden. Nicht weit entfernt vom Canal Saint-Martin liegt dieses sehr beliebte asiatische Restaurant direkt an einer Straßenecke. Eine beliebte Flaniermeile mit vielen Restaurants. Freitagabend, Fußballabend, Ausgehabend. Kaum ein Platz ist mehr zu haben in den Bars und Restaurants.

Immer wieder zeigen die französischen Fernsehsender ein Foto dieses Restaurants im 10. Arrondissement. Wahllos scheinen die Angreifer in die Menge geschossen zu haben, die hier einfach essen, sich treffen und Spaß haben wollte.

Auf Twitter verbreitet sich die Nachricht von der Schießerei schnell. Und es bleibt nicht bei dieser. Im Herzen der Stadt fallen weitere Schüsse. Etwa bei der Rue de Charonne im 11. Arrondissement. Menschen sterben durch die Kugeln auf einer Terrasse einer Bar. Auch diese Gegend ist ein beliebtes Ausgehviertel direkt hinter der Place de la Bastille.

Auf den TV-Sendern BMFTV und i-télé berichten Anwohner oder Passanten was sie sehen: leblose Körper auf dem Boden. Blutverschmierte Menschen, die davonrennen. Weinende Franzosen, die einfach schnell heim wollen.

Ein Feuerwehrmann sagt im Fernsehen das, was man auch nach den Anschlägen von "Charlie Hebdo" immer wieder hören konnte: "Frankreich befindet sich im Krieg".

Der Terror ist zurück in Frankreichs Hauptstadt. Nach dem 7. und 9. Januar nun also der 13. November. Ein furchtbarer schwarzer Freitag. Schnell wird am Abend den Parisern klar, dass die Schüsse ihre Ursache nicht etwa in einem Bandenkrieg haben, wie es immer wieder etwa in Marseille passiert.

Dass die Explosionen in der Nähe des Stade de France, die man während des Fußballspiels Frankreich-Deutschland, keine Unfälle waren. An wohl insgesamt sieben Orten in Paris und im Vorort Saint-Denis ereigneten sich Anschläge gleichzeitig. Viele Kommentatoren vermuten: Das war eine konzertierte Aktion.

Am Ende des Freundschaftspiels Frankreich-Deutschland bricht Panik aus. Die Fans haben auf ihren Smartphones mitlesen können, was in der Innenstadt passiert. Manche haben wohl mitbekommen, dass die Explosionen beim Stade de France vielleicht von Gasflaschen, die mit Nägeln versehen waren, stammen.

Die Polizei gehe von zwei Selbstmordattentätern aus, melden Medien. Aus Panik rennen viele Fans am Ende des Spiels auf das Spielfeld. Nach und nach werden die Menschen aus dem Stadion gelassen. Doch viele trauen sich nicht mit der S-Bahn nach Paris hineinzufahren, versuchen verzweifelt ein Taxi zu bekommen.

Es ist der Horror, den die Pariser schon im Januar erlebten: Die Gleichzeitigkeit von Anschlägen, und die Angst, dass die Täter noch unterwegs sind.

Dann die Nachricht, dass in der beliebten Konzerthalle Bataclan am Boulevard Voltaire Geiseln genommen wurden. Dort trat die die US-Band "Eagles of Death Metal" auf. Die Geiselnahme erinnert die Franzosen sofort an die Geiselnahme im Januar im koscheren Supermarkt Hyper Cacher an der Porte de Vincennes. Zwischen 60 und 100 Menschen sollen noch in dieser Musikhalle am Rande des Marais-Viertels sein.

Sondereinsatzkommandos rücken an, gepanzerte Einsatzfahrzeuge stehen auf dem Boulevard. Ganze Straßenzüge werden abgeriegelt, fünf Metrolinien unterbrochen. Das Bataclan liegt nur wenige hundert Meter entfernt vom einstigen Anschlagsort der Redaktion "Charlie Hebdo" im Januar. Auch die Place de la République, wo sich am 11. Januar Tausende versammelt hatten und für Meinungsfreiheit "Wir sind Charlie" riefen, ist nur wenige Schritte entfernt. Wieder trifft es diese Gegend, wieder Menschen inmitten einer europäischen Metropole.

Kurz vor Mitternacht tritt Präsident François Hollande vor die Kamera. Im Untergeschoss des Innenministeriums hatte er mit dem Innenminister, der Justizministerin und den Spitzen der Polizei- und Antiterrorkräfte eine Krisensitzung gehalten. Er erklärt den Ausnahmezustand für das ganze Land. Und kündigt an, dass die Grenzen geschlossen werden.

In zwei Wochen hat Paris die UN-Klimakonferenz zu Gast mit 40.000 Teilnehmern. Das könne man sich nach diesen Anschlägen gerade gar nicht vorstellen, sagt ein Kommentator im Fernsehen.

Keine zwei Stunden später wird das Bataclan gestürmt. Erst heißt zunächst, es soll Dutzende Tote gegeben haben, drei Terroristen sollen erschossen worden sein. Doch schon kurz meldet AFP eine Bilanz des Abends und der Nacht: mehr als hundert Tote. Fünf Terroristen sollen erschossen worden sein.

Der Präsident kommt zum Bataclan. Er spricht vor Ort von Drama, von einer Barbarei, von einem Grauen. Und wie im Januar ruft er seine Landsleute auf, nun standhaft zu sein. Und vereint.