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Reportage

Mythos Plöck

Keine andere Heidelberger Straße ist so facettenreich, keine andere so unbeliebt. Doch ist ihr schlechter Ruf berechtigt? Eine Spurensuche 

Irgendwann an einem Junimorgen: Als der schwarze VW von der Sofienstraße kommend in die Plöck abbiegen will, bin ich immerhin vorbereitet. Ich reduziere meine Geschwindigkeit. In der Hoffnung, dass er die mir zustehende Vorfahrt gewährt, setze ich ebenfalls zum Abbiegen an. In seinem schwarz-rot-gold umhüllten Seitenspiegel sieht mich der Fahrer jedoch nicht und schneidet mir den Weg ab – abrupt komme ich zum Stehen. Schon ist der rechte Arm draußen, der Mittelfinger gestreckt. „Pass doch mal auf, du blöder Sack“, brülle ich. Erst jetzt realisiere ich die an der roten Ampel wartenden Menschen. Einige schütteln mit dem Kopf. Andere rufen mir etwas hinterher. Ich beachte sie nicht und folge dem VW-Fahrer in die Plöck. Er hat von alldem nichts mitbekommen.

War dieser emotionale Ausbruch ein Fehlverhalten meinerseits? Sicherlich. Bin ich damit allein? Sicherlich nicht. Seit vier Jahren höre ich sie fast täglich, diese Plöck-Geschichten: „Der Fußgänger gerade auf der Plöck, unmöglich, dass der nicht nach links und rechts schauen kann.“ „Der Radfahrer gerade auf der Plöck, unmöglich, wie der vorbeigerast ist!“ Allein die Autofahrer geben ein konsensfähiges Feindbild ab. Der Tod, dem man auf der Plöck gerade nur um Haaresbreite entkam, ist ein verbreitetes Gesprächsthema, wie die verwegenen Karrierechancen nach dem Bachelor oder das schlechte Triplexessen auf dem Teller. Kürzlich sagte die stellvertretende Unikanzlerin Senni Hundt der Rhein-Neckar-Zeitung, dass die Plöck eine ihrer täglichen „Horrorstrecken“ sei. Dort herrsche ein „ruppiger und aggressiver Ton“. So scheint jeder eine persönliche Beziehung zu dieser Straße zu haben – und nur wenige eine gute. Doch wie viel Hass hat die Plöck überhaupt verdient?

Auf den ersten hundert Metern umhüllt der Geist des Gutmenschlichen die Straße. Karitative Einrichtungen wie der „Brot und Salz“-Laden der Diakonie oder der Manna-Treff, eine Anlaufstelle für Bedürftige, befinden sich hier. Zudem gibt es die evangelische Stadtmission, die in den Gebäuden des ehemaligen reformierten Spitals beheimatet ist. Einst gab es auch noch ein katholisches und ein lutherisches Spital in der Plöck. „Sie sind das Ergebnis einer gezielten Stadtplanung des Kurfürsten ab 1700“, erklärt Hans-Martin. Er ist ehemaliger Kulturamtsleiter der Stadt Heidelberg und Vorsitzender des Heidelberger Geschichtsvereins. Mit ihm treffe ich mich im Innenhof der 1876 erbauten evangelischen Kapelle. „Beim Wiederaufbau der Stadt ab 1700 wurden die drei Spitäler in die Nähe des Anna-Friedhofs verlegt, bildeten also eine Art Armenghetto am Rand der Stadt“, sagt Mumm. Doch da sind wir schon etliche Jahrhunderte zu weit, denn meine brennendste Frage ist eine andere: „Plöck“ – was hat es mit diesem Namen auf sich? Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd: Plöck bedeutet „Ackerstück“, zurückgehend die ursprüngliche Nutzung der die Straße umliegenden Fläche, wo im Mittelalter Dreifelderwirtschaft betrieben wurde. Der erste urkundliche Beleg der Plöck stammt aus dem 14. Jahrhundert – womöglich entstand sie aber viel früher und ist sogar älter als die Hauptstraße. Sie war ein Verbindungsweg zwischen Bergheim und einer Siedlung um die Peterskirche. Eine Besiedlung fand wohl erst ab 1392 statt, als Bauern aus Bergheim in die Plöck zwangsumgesiedelt wurden. Bis in das 20. Jahrhundert lebten sie noch hier. Selbst der prominenteste Einwohner der Plöck, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, wohnte von 1817 bis 1818 in einem Bauernhaus. Im Gegensatz dazu wurde die Hauptstraße im Lauf der Jahrhunderte immer vornehmer und hochrangiger, erzählt Mumm. Hier reihte sich Adelspalast an Adelspalast. Ab dem 19. Jahrhundert folgten dann die Einkaufsläden. Der Plöck blieb nur noch die Rückseite der Hauptstraße. Ihr Schattendasein verfestigte sich damit endgültig.

Dieser Kontrast besteht noch heute: Während in der Hauptstraße eine Einkaufskette an die nächste anschließt, scheint die Welt der kleinen Familienbetriebe auf der Plöck noch in Ordnung. Der bekannteste ist ohne Zweifel der Heidelberger Zuckerladen in der Plöck 52. Auch er atmet ein Stück Heidelberger Geschichte: Im 19. Jahrhunder war hier die „Russische Lesehalle“ beheimatet. Junge russische Studenten, die in Heidelberg überwiegend Naturwissenschaften studierten, trafen sich im ersten Stock und lasen verbotene Literatur. In den 70er Jahren entstand im Erdgeschoss einer der ersten Frauenbuchläden Deutschlands. Seit 29 Jahren aber betreiben hier nun Marion und Jürgen den berühmten Laden mit dem Zahnarztstuhl im Schaufenster. Drinnen herrscht ein ebenso großes Menschenaufkommen wie vor der Tür, aber die Atmosphäre ist eine ganz andere. Streit gibt es hier allein zwischen Kindern und Eltern ob der Menge der Süßigkeiten. Ein kleiner Fluch ertönt nur, wenn man gegen Jürgen beim Würfeln verliert. „Die Plöck ist noch das ursprüngliche Heidelberg“, sagt er, „hier ist alles sehr menschlich, hier herrscht noch Bürgernähe. Und mit der Art, wie wir unsere Dinge verkaufen, passen wir sehr gut in diese Struktur rein.“ In der Tat herrscht im Zuckerladen eine in Geschäften fast nicht mehr gekannte Redseligkeit. Jürgen spricht mit den Kunden über das gestrige WM-Spiel, Marion über die Vorzüge von harter Lakritz. Für Eilige ist hier nur wenig Platz. Marion gefällt vor allem das Miteinander der Geschäftsleute in der Straße. Obwohl die Lage sicherlich nicht die attraktivste ist, wollen sie auf keinen Fall die Plöck mit der Hauptstraße tauschen: „Ich wüsste nicht, was ich da machen sollte. Da läuft man einfach über eine Strecke und das war’s. Die Plöck ist im Gegensatz dazu eine sehr anheimelnde Straße“, behauptet Jürgen.

Ganz so weit würde Martin Stieber nicht gehen. Aus „wirtschaftlichen Gründen“ könne er sich das schon vorstellen, auch wenn die Hauptstraße keinerlei Charme versprühe und eher einem „Latte macchiato-Strich“ ähnele. Er und sein Bruder Christian sind vielen eher als „Stieber Twins“ bekannt, die in den 80ern den deutschen Hip-Hop mitgegründet haben. Während Christian mittlerweile als Architekt sein Geld verdient, ist Martin seit 14 Jahren Inhaber des Klamottenladens „Flame“ schräg gegenüber. Für ihn ist die Plöck die „lebendigste Straße in der Altstadt. Gerade die ganzen Studenten, die hier täglich langfahren, halten die Plöck auf ewig jung.“ „Ich bin Plöck-Fan“, ruft er mir nach meinem kurzen Besuch noch zu. „Ich doch auch“, will ich spontan sagen, aber dann verlasse ich den Laden und begebe mich zurück ins Getümmel. Eine Fußgängerin beschwert sich, dass ich mein Rad direkt an die Wand lehnend auf dem Bürgersteig parke: „Da kommt doch keiner mehr vorbei“, knurrt sie.

So war es nicht immer: Erst als die Hauptstraße zur längsten Fußgängerzone des Universums erklärt und so der gesamte Verkehr aus ihr herausgenommen wurde, kam auch der Plöck eine größere verkehrliche Bedeutung zu. 1995 erhielt sie offiziell den Rang einer Fahrradstraße (was sie eigentlich erst ab dem Friedrich-Ebert-Platz ist) und ihr Ruf begann zu leiden. Die damalige Oberbürgermeisterin Beate Weber wollte die Stadt ein wenig „grüner“ machen. Die Plöck hat das nur schweren Herzens aufgenommen: Bei einer Erhebung Ende der 90er Jahre wurden in der Plöck etwa 7000 Radfahrer am Tag gezählt. Es dürften mittlerweile einige mehr sein. Autofahrer sind es dagegen „nur“ 3000, wie eine Verkehrsanalyse im Jahre 2007 herausfand. „Die Rücksichtnahme besonders bei den Fahrradfahrern ist nicht sehr groß“, hat schon Jürgen berichtet, „vielleicht hat auch der Egoismus in den letzten Jahren einfach zugenommen. Das Miteinander auf der Straße läuft nicht mehr so glatt.“

Doch woher kommt das? Auf der Suche nach der Antwort begebe ich mich in die Friedrichstraße, einen Abzweig der Plöck. Hier hat die Psychotherapeutin Maria Heiming ihre Praxis. Sie sei selbst passionierte Radfahrerin, versuche jedoch die Plöck so gut es geht zu meiden: „Allein schon deshalb, weil auf engstem Raum so viele miteinander auskommen müssen. Das ist oft schwierig.“ Gerade der Straßenverkehr biete sich an, um seinen Ärger und seine Aggressionen loszuwerden. „Gesellschaftlich gesehen muss jeder funktionieren. Es gibt nur wenig Raum für Schwäche und die Menschen stehen unter permanentem Druck.“ Dennoch gebe es aber einen großen Unterschied zwischen verbaler Aggression und Tätlichkeit. „Davon profitiert die Plöck eben auch.“

Diesen Eindruck scheint ein Blick in die Unfallstatistik aus dem Jahr 2013 zu bestätigen: So gab es gerade einmal 15 polizeilich registrierte Unfälle auf der Plöck, bei denen nur viermal die Radfahrer als Verursacher ermittelt wurden. Zwar liege die Dunkelziffer sicher etwas höher, aber insgesamt sei die Plöck im Vergleich zu anderen Heidelberger Straßen, was Unfälle betrifft, „total unauffällig“, sagt Jürgen Kuch, stellvertretender Leiter des Amts für Verkehrsmanagement der Stadt Heidelberg. „Subjektiv nimmt man die Gefahr einfach ganz anders war. Man schätzt sie viel höher ein.“ Heiming fügt hinzu: „Es gibt nur einige wenige aggressive Radfahrer. Auch wenn man schnell ist, fährt man doch konzentriert und umsichtig.“ Selbst auf der Plöck hat sich jeder also doch irgendwie im Griff.

Noch ein kleiner Anstieg und dann habe ich es wieder einmal geschafft: die 800 Meter sind unbeschadet überstanden. Viel zu selten würdige ich das Ambiente der Ziellinie. Links thront die Universitätsbibliothek, rechts mit der Peterskirche die älteste Kirche der Stadt. Ich halte kurz inne und blicke zurück: Ist die Plöck nun wirklich die Heidelberger „Horrorstrecke“? Keineswegs. Sie ist die eigentliche Halsschlagader dieser Stadt. Jung, authentisch, etwas rüpelhaft, und immer mit Überraschungen gesät. Ihr eigenes Korrektiv also, um Heidelberg aus seiner oftmals verträumten Selbstverliebtheit zurückzuholen. Die Hauptstraße mag zwar der zeitlose Heidelberger Klassiker sein, aber mittlerweile ist er fade und langweilig geworden. In dessen Schatten geht es der Plöck ziemlich gut.

http://www.ruprecht.de/?p=5412

Veröffentlicht am 16. Juli 2014