Michael Brüggemann

Textchef, Schreibcoach und freier Autor, Mainz

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Feature

Ein Material erfindet sich neu

Beton herzustellen, ist extrem energieaufwändig. Forscher und Ingenieure arbeiten daran, den Baustoff nachhaltiger zu machen. Doch die neuen Betone können noch mehr: Sie dämmen Häuser, filtern Schadstoffe aus der Luft und erzeugen sogar Strom. (Lux – Das Magazin für intelligente Energie 1/2015, Beilage der Süddeutschen Zeitung)

 

Wenn Heike Klussmann durch Kassel läuft, sieht sie an jeder Ecke potentielle Flächen für kleine Solarkraftwerke: Parkplätze, Treppenstufen, Fahrradwege. Gemeinsam mit dem Architekten Thorsten Kloosters hat die 47-jährige Künstlerin und Professorin einen „Solarbeton“ entwickelt, der Strom erzeugt und Betonoberflächen in Energieproduzenten verwandeln kann. Der Beton ist mit sogenannten Farbstoffsolarzellen beschichtet, die Lichtenergie einfangen und in elektrische Energie umwandeln. „Die Farbpigmente reagieren mit dem Sonnenlicht, ähnlich wie Chlorophyll in einem Blatt“, sagt Klussmann: Fällt Licht auf die Farbstoffschicht, setzt diese Elektronen frei und der Strom fließt. Die Zellschichten werden auf den Beton gedruckt oder gesprüht. In die Oberfläche gelaserte Leiterbahnen verschalten die Solarzellen miteinander. Der Beton wird zum Photovoltaikmodul.

 An Flächen für den Solarbeton mangelt es nicht: Beton ist der am meisten genutzte Baustoff der Welt. Jährlich werden rund 8000 Millionen Tonnen verbaut – für Straßen, Plätze, Häuser, Brücken, Tunnel. Wenn ohnehin ein Großteil der gebauten Umwelt aus Beton besteht, warum ihn nicht mit neuem Nutzen versehen? Das ist der Grundgedanke der beiden Baustoff-Pioniere. 2009 gründeten sie die Forschungsplattform „Bau Kunst Erfinden“ an der Universität Kassel. In einem „Do It Yourself“-Labor erforschen Künstler, Architekten, Stadtplaner, Physiker, Chemiker und Produktdesigner vertraute Materialien reichern sie mit neuen Funktionen an.

Besonders das Gemisch aus Sand, Kies, Wasser und Zement hat es ihnen angetan: Neben Solarbeton haben sie einen lichtreflektierenden Beton konstruiert, der Tunnel oder Bahnsteigkanten zum Leuchten bringt. In den Beton eingebettete Micro-Glaskugeln reflektieren einfallendes Kunst- oder Tageslicht – ähnlich wie die „Katzenaugen“ am Fahrrad. Noch mehr verblüfft eine Betonscheibe, die im Labor an einem Tisch lehnt: berührungssensitiver Beton. Tippt oder wischt man über die Oberfläche, geht auf dem Tisch eine Glühlampe an. Durch das Berühren ändert sich die Spannung im Beton, ein Draht an der Rückseite gibt den Impuls weiter. „Unser Ziel sind schalterlose Wände, die man wie ein Smartphone bedient, um Licht oder Heizung zu steuern“, sagt Klussmann.

Beton als Stromerzeuger, Sensor oder Lichtreflektor? Das ist neu und ungewohnt. Bislang fiel der Baustoff eher als Energieverschwender denn als -erzeuger auf: Die Herstellung ist extrem energieaufwändig, Zement als Bindemittel für Beton gehört zu den größten Verursachern des Treibhausgases Kohlendioxid. Weltweit arbeiten Forscher und Unternehmen deshalb daran, das Material nachhaltiger zu machen: Sie feilen an leichteren Betonen und Zuschlägen, deren Produktion weniger Energie und Ressourcen verbraucht. Und versehen Beton mit ungeahnten Eigenschaften.

Das muss nicht immer teuer oder aufwändig sein. Die Wissenschaftler aus Kassel verwenden Low-Budget-Materialien, die frei erhältlich, preiswert, weitgehend recycelbar und umweltfreundlich sind. „Eine einfache Farbstoffsolarzelle kann man in zwei Stunden selbst bauen“, sagt Heike Klussmann. „Es genügen Fruchtsaft, Zahnpasta, etwas Jodlösung aus der Apotheke und zwei Glasplatten, die man mit einem Grafitstift elektrisch leitfähig macht. Das alles stapeln sie wie eine Schichttorte übereinander – fertig ist der Stromerzeuger.“ Das Glas will Klussmann noch durch Flüssigkunststoff zum Aufsprühen ersetzen. Zwar liegt der Wirkungsgrad des Solarbetons nur bei knapp zwei Prozent – ein Zehntel dessen, was herkömmliche Photovoltaik-Module leisten. „Dafür liefert er selbst bei diffusem Licht Strom und lässt sich im Prinzip auf jeder versiegelten Fläche einsetzen.“

Allerdings sind die Substanzen in der Farbstoffsolarzelle rasch erschöpft. Die Forscher wollen die robusten Zellkomponenten daher dauerhaft im Beton verankern. Die empfindlicheren Schichten sollen sich wie Wandfarbe erneuern lassen, sobald ihre Leistung nachlässt. Derzeit tüfteln sie an einem Fassadenroboter, der Häuser hinaufklettert und die Farbe aufträgt. „Es geht aber auch mit Pinsel oder Sprühpistole“, sagt Heike Klussmann. Bis die ersten Betonelemente auf den Markt kommen, dauere es jedoch noch fünf bis zehn Jahre.

Im ostwestfälischen Detmold ist man schon weiter: 2013 wurden Fahrbahnen und Gehsteige des neuen Busbahnhofs mit einem schadstoffzersetzenden Beton ausgestattet. Er filtert Fahrzeugabgase aus der Luft und verwandelt sie in unschädliche Salze. Der Zement ist mit Titandioxid-Pigmenten versetzt, die als weißer Farbstoff auch in Wandfarbe stecken. Scheint bei Sonne UV-Strahlung auf den Beton, setzt das Titandioxid eine chemische Reaktion in Gang: Schmutz wird zersetzt, Stickoxide aus den Abgasen werden in wasserlösliches Nitrat umgewandelt. „Der nächste Regen spült die Stoffe dann einfach in die Kanalisation“, sagt Professor Carsten Schlötzer von der Hochschule OWL, der das Projekt mit Studenten wissenschaftlich begleitet.

Rund 800 Busse fahren die elf Bussteige pro Tag an: Bei vier Minuten Standzeit pro Bus stoßen sie zusammen täglich mehr als 50 Stunden lang Schadstoffe aus. Der Spezialbeton senkt die Abgasbelastung erheblich. Die Hochschüler maßen den Nitratgehalt im Ablaufwasser und verglichen ihn mit einer unbeschichteten Fläche am gleichen Standort. „Bei Sonnenschein beobachteten wir einen Rückgang von 20 bis 40 Prozent“, sagt Schlötzer. Besonders sinnvoll sei der Beton an Orten, wo sich der Verkehr staut: auf Rollfeldern von Flughäfen, an Straßenkreuzungen oder Bahnanlagen. „Damit könnten wir die Stickoxidbelastung in den Städten ohne Aufwand und zu geringen Kosten reduzieren.“ Die Mehrkosten lagen in Detmold bei drei Prozent.

Dass Beton der Luft guttun kann, ist eine eher neue Erkenntnis. Bislang stand das Material wegen seiner schlechten Umweltbilanz in der Kritik. Rund zehn Prozent der weltweiten CO2-Produktion stammen aus der Zementproduktion, Tendenz steigend.

Forscher vom Karlsruher Institut für Technologie haben daher einen Zement entwickelt, dessen Produktion bis zu 50 Prozent weniger CO2 freisetzt und die Hälfte der Energie einspart. Um Kalzium für den Zement zu gewinnen, wird Kalkstein bei Temperaturen von bis zu 1450 Grad Celsius gebrannt. Dabei entweicht extrem viel CO2. Der neue Zement besteht aus einer kalziumarmen Substanz, für die weniger Kalk benötigt und die Herstellungstemperatur auf unter 300 Grad gedrosselt werden kann. Gemeinsam mit einem Industriepartner haben die Wissenschaftler eine Pilotanlage gebaut und wollen den Baustoff in den nächsten Jahren auf den Markt bringen.

Auch andere Betonzutaten lassen sich ersetzen: So verkleideten LIAG Architecten Fassaden und Deckenuntersichten einer Fakultät der Hochschule Arnheim-Nijmengen mit einem Textilbeton. Statt Stahl steifen Carbon- und Glasfasern den Beton aus. Textilmaschinen verweben die Fasern, bevor das Geflecht als Bewehrung im weichen Beton versenkt wird. Auch Sand und Kies tauschten die Holländer aus – durch Schaumglasschotter aus recyceltem Altglas. Die Schule gilt als nachhaltigstes Unterrichtsgebäude Hollands. Materialeinsparung im Vergleich zu herkömmlichen Bauweisen: 50 Prozent. 

Große Hoffnungen setzen Architekten zudem auf Dämmbeton. Dieser Beton dämmt und trägt zugleich, eine zusätzliche Wärmedämmung ist nicht nötig. Bisher wurde das Material vor allem bei Einfamilienhäusern verbaut. 2014 errichteten Zanderroth Architekten in Berlin jedoch ein siebengeschossiges Mietshaus aus Dämmbeton.

„Das Schöne ist, dass wir mit Dämmbeton wieder monolithisch bauen können", sagt Projektleiterin Annette Schmidt. Die einschaligen, sandgrauen Sichtbetonwände des „Monohauses“ sehen von außen genauso aus wie von innen. Keine vorgepappten Styropor-Dämmplatten und Klebstoffe mehr, die teuer und umweltschädlich entsorgt werden müssen. Für die gute Dämmwirkung des Betons sorgen Leichtzuschläge mit vielen Luftporen, wie Blähton und Flugasche. Die Wände funktionieren zugleich als Flächenheizung: Selbst im Winter nehmen sie tagsüber Sonnenstrahlen auf, speichern sie und geben sie abends an den Innenraum ab.

Dank leichterer Betone mit niedrigeren Rohdichten und besseren Dämmwerten sind Dämmbetonbauten inzwischen schlanker geworden. „Früher sahen diese Häuser aus wie Bunker, aber das verändert sich gerade", sagt Martin Peck, Herausgeber des Atlasses „Moderner Betonbau". Waren die ersten Dämmbetonfassaden noch bis zu 1,20 Meter dick, reichen im Monohaus 55 Zentimeter. Kürzlich entstand in Freising bei München sogar ein Wohnhaus mit 45 Zentimeter dicken Dämmbeton-Wänden.

Noch größer als im Neubau ist das Potential des Dämmbetons wahrscheinlich im Altbau. In niederbayrischen Bernried rettete der Architekt Peter Haimerl ein Bauernhaus von 1840 vor dem Abriss, indem er vier beheizte Dämmbeton-Kuben für Bad, Küche, Wohnen und Schlafen in den Räumen platzierte.

„In den letzten dreißig Jahren wurden im Bayrischen Wald die meisten alten Bauernhäuser zerstört – aus Ignoranz oder mangelnder Wertschätzung gegenüber dem ‚oidn Glump‘“, sagt Haimerl. Damit wollte er sich nicht abfinden: „Alte Häuser haben eine innere Logik und Schönheit, die sich nicht nachbauen lässt.“ Der 54-Jährige wohnt in dem Haus gemeinsam mit seiner Frau Jutta Görlich. Die Künstlerin hatte schon 1991 eine Galerie einbauen lassen. „Ich wollte, dass das Gebäude bleibt, wie es ist - aber nicht mehr frieren", sagt Görlich: „Bei einer Renovierung im herkömmlichen Sinne mit Wärmedämmung, Farbe und Putz wäre vom tatsächlichen Haus wenig übriggeblieben.“

So aber ist die Geschichte des Bauernhauses Cilli, benannt nach Vorbesitzerin Cilli Sigl, weiterhin ablesbar: Durch Ausschnitte in den Betonboxen blickt man auf abblätternde Farbschichten oder den alten Dachstuhl. „Dämmbeton ist perfekt für Altbausanierungen“, sagt Peter Haimerl. „Er lässt sich gut verarbeiten, ist extrem tragfähig und trocken.“ Als Wärmestifter oder statische Krücke, die alte Steinmauern stützt, könnte das Material die Nutzungsdauer vieler abrissbedrohter Altbauten verlängern. Es gäbe noch viele „Cillis“ zu retten.