Michael Brüggemann

Textchef, Schreibcoach und freier Autor, Mainz

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Feature

Summende Schadstofftester

Auf einer renaturierten Mülldeponie bei Erfurt bringen Bienen das Gelände zum Blühen und suchen es nach Schadstoffen ab. Die Thüringer wollen das Erfolgsprojekt nun exportieren. Etwa auf die Müllkippen Bangladeschs. (natur 6/2018)

Als Thomas Maul 2010 als Gärtner auf der Deponie in Erfurt-Schwerborn anfing, dachte er, ihn
würden Müll und Dreck erwarten. „Ich hatte das klassische Bild einer Deponie im Kopf: Möwen kreisen
über riesigen Müllbergen, alles stinkt. Aber dann sah ich dort gar keinen Abfall.“ Stattdessen blickte
der 47-Jährige mit dem Mecki-Haarschnitt auf blühende Gärtnerrosen, Hagebutten und Vogelkirschen,
lief über Streuobstwiesen mit Apfel- und Pflaumenbäumen und atmete saubere Luft.
Die Deponie in Erfurt-Schwerborn ist ein unerwarteter Flecken Natur. Wo sich einst Ratten zwischen
aussortierten Kommoden und löchrigen Matratzen tummelten, wachsen heute rund eine Viertelmillion
Bäume und Sträucher. Mehr als die Hälfte der 96 Hektar großen Halde wurde renaturiert. Nach der Deutschen Einheit sanierten die Stadtwerke Erfurt das Altareal und dichteten die Oberflächen temporär ab. Beim 64 Meter hohen Müllberg warteten die Gärtner bis 2010 mit Neupflanzungen, da zwischen dem Abfall Hohlräume entstehen und sich der Deponiekörper erst mit der Zeit setzt. Dann legten sie auf der Halde eine 2,5 Meter dicke Wasserhaushaltsschicht an und pflanzten rund 84 000 Blühsträucher.
Heute wird ein Großteil der Stoffe, die auf dem Gelände landen, nicht mehr deponiert, sondern wiederverwertet oder in Energie umgewandelt. Die Mengen an eingelagertem Müll gehen kontinuierlich zurück, 2021 endet die Ablagerung endgültig. „Unser Ziel ist eine abfallfreie Kommune“, sagt Marco Schmidt, Geschäftsführer der SWE Stadtwirtschaft, einer Tochter der Stadtwerke Erfurt.
Mit der Umwandlung zum Recycling-Areal und der Renaturierung kamen die Tiere: Fasane, Rebhühner,
Feldhasen, Wachteln und Rehe. 84 Vogelarten brüten auf dem Areal. Im Winter wärmen sich Krähen auf
den dampfenden Komposthaufen. Allein am Verwaltungsgebäude hängen 156 Schwalbennester, auf einem recycelten Betonmast nistet ein Storchenpaar.
„Im Sommer sieht’s hier aus wie im Tierpark. Für die Tiere ist das ein Paradies, ständig blüht was“, sagt
Thomas Maul. Rund um die Deponie wachsen fast nur Rapsfelder, das renaturierte Gelände muss ihnen
vorkommen wie eine Arche Noah. Doch die Tiere nehmen nicht nur, sie geben auch: Ein Dutzend schottischer Soay-Schafe fressen überschüssiges Grün, auch dort wo der Gärtner mit dem Rasenmäher nicht hinkommt: im Gestrüpp, an den Hängen oder im schwer zugänglichen Unterholz. „Außerdem verdichten sie mit ihren Hufen die Erde, vertreiben Mäuse und hinterlassen ihren Dünger in
der Landschaft“, sagt Thomas Maul.
Auch um die kleinsten Nutztiere auf der Deponie, die Bienen, kümmert er sich. Maul kommt aus einer
Imkerfamilie, sein Vater brachte ihm schon als Junge den Umgang mit Bienen bei. „Statt mit den anderen Fußball zu spielen, hab ich Honig geschleudert.“ 2011 kam er auf die Idee, Bienen auf der Deponie anzusiedeln und wurde zum ersten Deponie-Imker Deutschlands. „Für die ist das hier ideal, sie finden ein breites Nahrungsangebot.“ Im Gegenzug bestäuben sie die Pflanzen: 13 Völker, im Sommer mit je 60 000 Bienen, bringen das Gelände zum Blühen. Sie produzieren 42 Kilo „Buddel-Honig“ pro Jahr und Volk, den die Stadtwerke an ihre Mitarbeiter verschenken. Darüber hinaus dienen die Bienen als
Schadstofftester: Ein Labor untersucht ihren Honig nach Schwermetallen wie Blei, Cadmium, Kupfer,
Zink, Nickel und Quecksilber.
Zwar ist das Bio-Monitoring nur eine Ergänzung: Dreimal im Jahr schreiten Deponiemitarbeiter das
Areal mit Gassuchgeräten ab, quartalsweise nehmen sie Grundwasserproben. Auch Abwasser und Kompost werden regelmäßig analysiert. Doch um die Staubpfade, die durchs Gelände führen, auf Schadstoffe zu kontrollieren, eignen sich die Bienen am besten: Denn der Staub schlägt sich auf den Blüten der Pflanzen nieder. Sammeln sich dort Schwermetalle, können diese im Honig festgestellt werden. Der Grund: Bienen versorgen ihre Brut und das Volk nicht nur mit Nektar, sondern zudem mit fett-, eiweiß- und mineralstoffreichen Pollen, auch Blütenstaub genannt: In einer Honigprobe lassen sich
mehr als 500 Pollen nachweisen. „Wird ein Grenzwert überschritten, können wir anhand der Zusammensetzung der Pollen erkennen, in der Nähe welcher Pflanzen Schadstoffe austreten“, erklärt Maul.
Wo Menschen nur einzelne Stichproben nehmen können, sammeln die Bienen im Sommer ständig
Nektar und Pollen im Radius von fünf Kilometern. Der Imker hat seine Bienenkästen daher zentral
auf der Deponie platziert: „Wenn der Honig sauber ist, ist auch die Deponie sauber.“ Bislang wurde
bei keiner Probe eine Schadstoffbelastung festgestellt.

Das Konzept funktioniert so gut, dass auch andere Länder davon profitieren sollten, findet Werner
Bidlingmaier. Der 72-Jährige – Vollbart, Baskenmütze, Tweed-Jacket – war bis 2011 war Professor für Abfallwirtschaft an der Bauhaus-Universität in Weimar. Zur Pension bekam er eine Imkermontur geschenkt. „Dabei hatte ich keine Ahnung vom Imkern.“
Ein Kollege erzählte ihm von Thomas Maul und seinen Bienen. Heute sind die beiden befreundet, auch
Bidlingmaier hält einige Bienenvölker auf der Deponie. Der Abfallexperte zeigte einem Gastprofessor aus den Vereinigten Staaten das Gelände in Schwerborn: Dieser war so begeistert, dass er dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama in einem Brief von den Erfurter Deponiebienen berichtete. Daraufhin bewilligte der US-Senat eine Million Dollar für ein Forschungsprojekt an der Universität von Kalifornien. Innerhalb von fünf Jahren sollten Bienen- und Abfallforscher herausfinden, ob die Idee auch auf einer Deponie in San Francisco umgesetzt werden kann.
Die Amerikaner erhofften sich neue Lösungen im Kampf gegen das Bienensterben. Allein 2007 verloren die USA in 36 Staaten mehr als ein Drittel ihrer Bienenvölker, die Verluste halten bis heute an.
Die Ursachen sind vielfältig: Insektizide, Antibiotika, die aus Asien eingeschleppte Varroamilbe oder das fehlende Blütenangebot gefährden die Honigbiene.
Ihr Verschwinden bedroht neben der Artenvielfalt auch die US-Wirtschaft. Jedes Jahr bestäuben Bienen
Agrargüter – Mandeln, Kirschen oder Pfirsiche – im Wert von mehr als 15 Milliarden Dollar. Bei vielen
Obst- und Gemüsesorten gibt es keine Alternative. „Die Idee war, Deponien als Rückzugsorte und grüne
Inseln einzurichten, um wieder eine gesunde Bienenpopulation aufzubauen“, sagt Bidlingmaier.
Doch das Projekt scheiterte. Zu verschieden waren die Vorstellungen von Bienenhaltung und Abfallwirtschaft dies- und jenseits des Atlantiks. Das Scheitern erzählt viel über den unterschiedlichen Umgang mit Umwelt und Tierwohl.
Einen ersten Eindruck bekamen die Thüringer Deponie-Imker Anfang 2015: Drei Wochen lang bereisten
sie auf Einladung Obamas Kalifornien – zur Zeit der Mandelblüte. Ab Mitte Februar färben rund 77
Millionen Mandelbäume das Central Valley blütenrosa. Die Mandelblüte ist ein „Big Business“: Kalifornien produziert 80 Prozent der weltweiten Mandelernte. Dreiviertel aller Bienenvölker, die in den
USA leben, sind in der vierwöchigen Erntezeit im Einsatz, um rund 3000 Quadratmeter Mandelblüten
zu bestäuben. Manche Wanderimker fahren die Bienen nacheinander zur Mandel-, Apfel-, Kirsch- oder Zitrusbestäubung in Lkws quer durch Amerika. Der Transport auf den endlos langen Highways stresst die Tiere, in den Brutkästen kann es sehr heiß werden. Auch die Fungizide setzen ihnen zu, mit denen Kaliforniens gigantische Mandel-Monokulturen gespritzt werden.
Zwar gibt es in den USA auch immer mehr Bee Rangers, die ihre Völker ähnlich behutsam halten wie
europäische Hobby-Imker, „aber für einen Bestäubungsimker mit 7000 Völkern ist die Bienenhaltung
Massentierhaltung“, weiß Thomas Maul. Pro Volk im Mandeleinsatz kassieren sie bis zu 150 Dollar. Macht bei 7 000 Völkern in vier Wochen Bestäubungsdienst 1,05 Millionen Dollar. Für die Imker ist es ökonomischer, die Tierverluste einzupreisen und als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen.
Auch in der privatisierten US-Abfallwirtschaft stehen ökonomische Interessen oft über dem Umwelt-
und Naturschutz. „In Deutschland sind die Kommunen für den Müll verantwortlich. In den USA
schließen sie Verträge mit Privatunternehmen ab und reichen die Verantwortung weiter“, weiß Abfallexperte Werner Bidlingmaier. „Die Firmen stehen in hartem Wettbewerb. Um keine Aufträge zu verlieren, vermeiden sie Zusatzkosten – dazu gehören auch Bienen, um die sich Mitarbeiter kümmern müssten.“
Während die Deponie in Deutschland als Auslaufmodell gilt, ist die Ablagerung von unbehandelten
Abfällen in den USA vielerorts noch Standard. Nur knapp die Hälfte des Abfalls wird recycelt, kompostiert oder zur Wärmegewinnung verbrannt, die andere Hälfte landet auf Deponien.
Dabei profitieren von der Renaturierung und Umwandlung der Deponien in Recycling-Zentren nicht nur Umwelt und Natur, langfristig lassen sich auch Kosten sparen: „Da die Pflanzen
über ihre Wurzeln Wasser aufnehmen, muss zum Beispiel weniger Sickerwasser gesammelt und gereinigt werden“, sagt Bidlingmaier: „Allerdings lassen sich die Einsparungen schwierig abbilden. Deshalb interessiert das die meisten US-Firmen nicht.“
Nach dem Scheitern des Projekts in den Vereinigten Staaten hoffen Maul und er, mit den Bienen stattdessen in Entwicklungs- und Schwellenländern Gutes zu bewirken. Müllkippen sind dort ein großes Problem: Ihr Sickerwasser kontaminiert das Grundwasser, methanhaltiges Deponiegas entweicht in die Atmosphäre. Menschen leben im Müll und sind Rauch, Schwermetallen und Chemikalien ausgesetzt.
Besonders stark leiden die Jüngsten. Zum Beispiel auf der Müllhalde südlich der kambodschanischen
Hauptstadt Phnom Penh: Rund 600 Kinder wühlen sich dort mit bloßen Händen durch den Abfallberg,
sammeln Flaschen, Pappen oder Metallteile. Um an Kupfer zu gelangen, brennen sie Stromkabel ab und
atmen giftige Dämpfe ein. Viele sterben schon im Jugendalter. Die Kinder gehen selten oder gar nicht auf staatliche Schulen. Umso wichtiger sind Bildung und ein anderes Einkommen, um aus der Armutsspirale herauszukommen.
Die 2000 gegründete Thüringisch-Kambodschanische Gesellschaft, der Bidlingmaier angehört, will Phnom Penhs Müllsammlerfamilien aus dem Elend befreien und ihnen neue Perspektiven bieten – künftig auch mithilfe von Bienen. Ihr Einsatz auf einem Gelände nahe der Hauptstadt wird
gerade geprüft. Das Areal umfasst einen Kindergarten, eine Schule, Schulräume für Jugendliche und Erwachsene, einen Gemüsegarten, Hühner- und Schweineställe.
In Deutschland ausgebildete Kambodschaner bringen den Müllsammlern außerdem Lebensmittelanbau und Viehzucht bei. Künftig sollen sie auch Imkern lernen und sich unter anderem mit dem Honigverkauf ihren Lebensunterhalt sichern. „Die Bienen würden das Leben der Leute verbessern“, sagt Thomas Maul. Im vergangenen Jahr hat er sich das Areal mit Werner Bidlingmaier angeschaut – seine zweite Überseereise nach dem USA-Trip. „Vorher bin ich nie gereist, wozu auch?! Ich hab ja meine Bienen.“ Nun ist er öfter unterwegs – wegen der Bienen. Und wegen der Menschen.