Michael Brüggemann

Textchef, Schreibcoach und freier Autor, Mainz

1 Abo und 5 Abonnenten
Reportage

"Das Ende der Karriere ist grausam"

Was Fußballer nach dem Karriereende mit ihrem Leben anfangen: Vier Spieler, vier Geschichten. (erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)

Lothar Skalas Kabine misst keine zehn Quadratmeter. Unter der Zimmerdecke am Kopfende flimmert ein Kontrollmonitor. Neun Überwachungskameras füttern ihn laufend mit Bildern: von Küche, Tresen und Lokal, sogar vom Hinterausgang. Eine handvoll Mitarbeiter braten Burger, schwenken Pommes, verpacken Salate in faustgroße Plastikschachteln. Skala kennt jeden Handgriff: „Das ist wie beim Fußball“, sagt er. „Wenn was nicht läuft, erklärt der Trainer wie es besser geht.“

Seit über 25 Jahren ist Lothar Skala im Burger-Geschäft. 1980 eröffnete er als erster Franchiseunternehmer in Deutschland eine Burger King-Filiale. Mittlerweile betreibt der 54-Jährige vier Lokale in Darmstadt und Worms. Fastfood ist seine Altersvorsorge, Fußball seine Leidenschaft: Zwischen 1970 und 1979 verteidigte er in der Bundesliga für Kickers Offenbach und Eintracht Frankfurt, anschließend noch ein halbes Jahr für die Chicago Stings. Es folgte das abrupte Aus: Adduktorenabriss, Karriere-Ende mit 28 Jahren. „Plötzlich war ich einer unter vielen. Selbst der Bäcker fragte nicht mehr, wie das Spiel denn war.“

Über ein Jahr brauchte Skala, um sich gedanklich vom Fußball zu lösen. Dann der Neubeginn: In Chicago hatte ihn sein dreijähriger Sohn in ein Schnellrestaurant gezerrt. Der Vater erinnerte sich, steckte seine gesamten Rücklagen in den Bau einer Fast-Food-Filiale in Darmstadt. Für den Ex-Profi änderte sich alles: „Plötzlich musste ich selbst die Initiative ergreifen und unternehmerische Entscheidungen treffen. Früher auf dem Platz hatten wir alles gemeinsam beschlossen.“ Skala kümmerte sich um den Bau, kellnerte, briet Burger, schulte seine Mitarbeiter, obwohl er selbst noch lernte. Jeden Tag 16 Stunden, das ganze Jahr über ohne Urlaub. „Abends bin ich am Esstisch eingenickt. Das war ein völlig neuer Lebensrhythmus.“

Losgelassen hat Skala der Fußball nie. Heute arbeitet er nebenberuflich als Spielerberater. Dreimal im Jahr fliegt er nach Buenos Aires, sichtet Talente, vermittelt zwischen deutschen und argentinischen Vereinen. „Fußball ist wie eine Droge. Als ich komplett aus dem Geschäft war, hat mir etwas gefehlt.“

So wie Lothar Skala geht es vielen ehemaligen Fußballprofis: Es zieht sie zurück in ihr altes Metier. „Viele wollen Trainer oder Manager werden, aber die gutbezahlten Jobs sind begrenzt“, weiß Ulf Baranowsky von der Vereinigung der Vertragsfußballspieler (VDV). Die meisten Spieler müssen sich nach ihrer Laufbahn einen neuen Beruf suchen. Nur wenige haben genug Rücklagen, um von Zinsen und Erspartem zu leben. Und auch ihnen stellt sich spätestens mit Mitte Dreißig die Frage nach einem neuen Lebensinhalt.

Nur jeder Fünfte hat eine konkrete Vorstellung davon, was er nach der Karriere machen möchte, ergab eine Umfrage der VDV. Dabei trifft das Klischee vom „dummen“ Fußballer längst nicht mehr zu: Fast 60 Prozent der in der Studie erfassten Spieler besitzen Abitur oder Fachabitur, mehr als 40 Prozent eine abgeschlossene Ausbildung. Doch danach dreht sich alles nur um das Tore schießen. Vom sportlichen Ehrgeiz getrieben, versäumen viele Profis sich ausreichend fortzubilden. Später haben sie Schwierigkeiten loszulassen, denn die Zukunft nach dem Abpfiff ist ungewiss.

„Mein Körper schreit nach Bewegung“, sagt Uwe Bindewald. Bis vor zwei Jahren spielte der 37-jährige Verteidiger noch für Eintracht Frankfurt in der Bundesliga. Dann schickte ihn die Eintracht nach 384 Erst- und Zweitligaspielen in Fußball-Rente. Heute kickt Bindewald einmal in der Woche mit den Alten Herren des FSV Dorheim. „Das ist viel zu wenig“, klagt er. „Früher habe ich zweimal täglich trainiert. Der gewohnte Rhythmus ist dahin.“ Nach dem Karriereende war der gelernte Gas-Wasser-Installateur zunächst arbeitslos. Etwas ganz anderes anzufangen – das konnte er sich nach 15 Profijahren nicht vorstellen: „Du musst ja sofort Leistung bringen, da gibt dir keiner eine Chance dich einzuarbeiten.“ Bindewald kehrte in das Geschäft zurück, das er am besten kennt: den Fußball. Der zweifache Familienvater gründete eine Fußballschule für Kinder zwischen sieben und vierzehn Jahren. Langfristig hofft er auf einen Job als Trainer oder Sportmanager. Und wenn das scheitert? „Herauszufinden, was man außer Fußball machen kann, ist schwer. Ich bin noch immer auf der Suche.“

Jimmy Hartwig hat schon vieles ausprobiert. An diesem Tag ist er nicht zu beneiden: Deutschland spielt gegen Argentinien, draußen pilgern die ersten Fans zu den Großbildleinwänden. Doch der Ex-Nationalspieler muss arbeiten. Während des Spiels tritt er als Talkgast in einem Modehaus auf. Eine Stunde vor Anpfiff ist das Geschäft wie leergefegt: Zwei Kundinnen stöbern nach Sommerkleidern, den Fernseher in der Ladenecke nehmen sie nicht einmal war. Hartwig macht das Beste daraus: flachst mit dem Geschäftsführer, verteilt Komplimente an die Verkäuferrinnen. Der 51-Jährige genießt den öffentlichen Auftritt: Für Rhein-Main-TV tourt er als Reporter durch die Region, interviewt Fußballfans oder bringt Südkoreanern vor laufender Kamera bei, wie man Appelwoi trinkt. Der Titel der Sendung: „Lebbe geht weiter“.

Es ist das zweite Leben des Jimmy Hartwig. Das erste spielte auf dem Fußballplatz: 244 Bundesligaspiele für Kickers Offenbach, den Hamburger SV, 1860 München, Homburg und den 1. FC Köln. Mit dem HSV wurde er dreimal deutscher Meister und Europapokalsieger der Landesmeister. Seine Karriere endete 1988 nach einer Knieverletzung. Hartwig bekam sein Leben anschließend nur noch schwer in den Griff, schlug sich mit Nebenjobs herum und begann zu koksen. Wie viele Ex-Profis ließ er sich durch so genannte „Bauherrenmodelle“, die mit Steuervorteilen lockten, zum Kauf überteuerter Wohnungen verleiten. „Ich bin an die falschen Leute geraten“, sagt er heute. Der gebürtige Offenbacher musste von vorn beginnen: Die große Bühne, die Anerkennung, die Begeisterung, all das fiel plötzlich weg. „Das Ende der Karriere ist grausam. Dir wird ein Teil deines Lebens entrissen.“

Lange suchte er nach einem beruflichen Neuanfang: trainierte Sachsen Leipzig und Augsburg, moderierte Fußballshows und Ende der neunziger Jahre die Sendung „Mittendrin“ beim DSF. Am Deutschen Nationaltheater in Weimar spielte er zwei Jahre lang in Bertolt Brechts „Baal“ eine kleine Nebenrolle. „Um Geld zu verdienen“ ging Hartwig 2004 sogar in das RTL-Dschungelcamp. „Den ganzen Tag im Büro sitzen könnte ich nicht. Die Aufregung vom Fußball fehlt einem das ganze Leben.“

Das Klischee vom Fußballer, der Millionen verdient und nach der Karriere ausgesorgt hat, trifft nur auf wenige Stars zu. Den meisten der rund 2500 Fußballprofis bleiben in den Ober- oder Regionalligen hängen. In der vierten Spielklasse reichen Gehälter von unter 1400 Euro gerade einmal zum Leben. Den Spielern bleiben meist nur fünf bis zehn Jahre, um mit dem Sport Geld zu verdienen. „Mancher ist mit 22 Jahren schon Sportinvalide, andere haben nur einen kurzen Höhenflug“, sagt Ulf Baranowsky. „Stabile Karrieren wie die von Oliver Kahn sind eher die Ausnahme.“

Peter Kunter hockt auf seiner Wohnzimmercouch, als wollte er jeden Moment losspringen: die Hände geöffnet, den Oberkörper nach vorne gebeugt, die Augen hellwach, wie ein Torwart in Lauerstellung. In den siebziger Jahren führte der legendäre Schlussmann von Eintracht Frankfurtein Doppelleben: Neben seiner Fußballkarriere leitete er eine Zahnarztpraxis in Frankfurt. Morgens um sieben Uhr empfing Kunter die ersten Patienten, trainierte dann mit der Mannschaft von zehn bis zwölf auf dem benachbarten Platz in Bergen-Enkheim, eilte zurück zu Bohrern und Schläuchen, um pünktlich zum Abendtraining wieder im Tor zu stehen. „Beide Jobs haben mir unheimlich viel Spaß gemacht“, sagt der 65-Jährige. „Sonst wäre das wohl nicht gegangen.“ Für das Staatsexamen stellte die Eintracht ihren „fliegenden Zahnarzt“ ein halbes Jahr lang frei – ein Luxus, der heute undenkbar wäre.

Der Fußball half Kunter auch als Mediziner. Viele Mitspieler und jüngere Eintracht-Profis ließen sich von ihm auf den Zahn fühlen. „Dabei habe ich in der Praxis nie über Fußball gesprochen“, erinnert er sich. 1976 beendete Kunter seine Karriere. Nach einer schwachen Leistung gegen Stuttgart feindeten ihn Fans wochenlang und beschimpften ihn nachts am Telefon. Heute rufen sie nur noch an, um zu reden. „Manche gehen montags nicht zur Arbeit, wenn die Eintracht verliert.“ Für Kunter undenkbar. „Ich kann schließlich auch ohne Fußball.“