Melanie Maier

Freie Journalistin, Orsingen-Nenzingen

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Reportage

Lektionen am Grenzzaun

Als Berthold Dücker am 24. August 1964 aus der DDR flieht, ist er 16 Jahre alt. Es ist ein sonniger Montagmorgen, und Dücker ist mit den drei Kühen seines Vaters unterwegs in Richtung Weide. Als sein Blick auf die Grenze fällt, fragt sich der junge Mann: „Warum nicht heute?“

Der spontanen Eingebung folgend, kehrt er zurück zum elterlichen Hof. Dort nimmt er die neue Kneifzange seines Vaters an sich. Ohne ein Wort gegenüber den Eltern oder den beiden älteren Brüdern zu verlieren, geht Dücker ein weiteres Mal zur Grenzanlage.

In einem fast ausgetrockneten Bachlauf robbt der junge Mann zum Stacheldraht. Er knipst die zwei unteren Reihen auf, dann schiebt er sich langsam durch das Minenfeld. Den Kopf auf den Unterarm gelegt, stochert er mit der Zange nach Sprengkörpern. „Das ich damit eine Mine hätte auslösen können – daran habe ich nicht gedacht“, erinnert sich der 67-Jährige heute. „Ich muss eine ganze Heerschar von Schutzengeln gehabt haben.“

Erschienen im November 2014